Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
zunimmt. Irgendetwas muss passieren. Ich muss dafür sorgen, dass etwas passiert. Und zwar bald. Ich weiß nur noch nicht, was.
Als Ellen vom Lunch mit ihrer Mutter und ihren Patentanten nach Hause kam, setzte sie sich erst mal auf die Treppe vor dem Haus. Statt die Schlüssel aus der Tasche zu kramen und aufzuschließen, hätte sie lieber geklingelt und auf das vertraute Geräusch der langsam näher schlurfenden Schritte gewartet. Ihr Großvater hatte die Tür immer ganz vorsichtig mit einem streitlustigen Gesichtsausdruck geöffnet, der aber sofort verschwand, wenn er seine Enkelin erblickte. »Sie ist da!«, rief er ihrer Großmutter dann freudig zu und zog die Tür weit auf, und Ellen stieg der Duft von frisch Gebackenem in die Nase.
Ihre Großeltern waren schon eine Weile tot, aber aus irgendeinem Grund schien es Ellen an diesem Tag ganz ausgeschlossen, dass sie nicht da waren. Sie hatten ihr diese Tür bestimmt etliche Hundert Mal geöffnet. Ellen kam es nicht so vor, als würde sie nur Erinnerungen heraufbeschwören. Es schien vollkommen logisch, dass ihre Großeltern noch da waren, irgendwo, auf einer anderen Daseinsebene, und wenn sie nur lange genug sitzen blieb und sich ganz fest konzentrierte, würde sie durch Zeit oder Materie oder was auch immer hindurchschlüpfen, den Kopf noch einmal an die Schulter ihres Großvaters legen und beobachten können, wie er wie immer ein bisschen rot wurde, wenn sie ihn umarmte und sich an ihn schmiegte. »Was hast du auf dem Herzen, Ellie?«, fragte ihre Großmutter stets. Niemand außer ihrer Großmutter hatte sie jemals Ellie genannt. (»Ich habe mein Kind nicht Ellie getauft, das hätte ich niemals getan«, sagte Anne jedes Mal schaudernd.)
Ellen hätte ihren Großeltern gern von dieser neuen Entwicklung in ihrem Leben erzählt, von David Greenfield, jenem seltsamen, verlockenden Namen auf ihrer Geburtsurkunde, der nun nicht mehr der des sorgsam ausgewählten Samenspenders war, sondern der des »bezauberndsten Mannes«, den ihre Mutter »jemals kennengelernt« hatte. Das war so, als erführe man zu einem Zeitpunkt, da es einen nicht mehr interessierte und man auch nicht mehr an Wunder glaubte, dass es den Weihnachtsmann tatsächlich gab. Es war schlicht und einfach verwirrend.
»Deine Mutter ist mir vielleicht eine!«, hätte ihre Großmutter gesagt, den Kopf geschüttelt und den Wasserkessel aufgesetzt.
Ellen seufzte und lächelte. Ja, genau darum ging es. Sie wollte, dass man ihrer Mutter Vorhaltungen machte, weil sie in Ellens Leben ein solches Durcheinander verursachte. Und wer könnte das besser als ihre Großeltern? Sie hatten immer zu ihr gehalten.
Und warum wollte sie, dass ihre Mutter gerüffelt wurde? Angst war der Grund. Angst vor der Veränderung. Angst vor dem Unbekannten. Die gleiche Angst, die ihren Großvater stets veranlasst hatte, die Tür ganz vorsichtig zu öffnen. Ist das die Veränderung, die an meine Tür klopft?
Ellen seufzte, kramte die Hausschlüssel aus ihrer Handtasche und stand auf. In diesem Moment fiel ihr Blick auf das schmiedeeiserne Tischchen mit der Mosaikplatte in einer Ecke der Veranda. Ihre Großmutter hatte die Mosaikarbeit selbst gefertigt, nachdem sie einen Kurs besucht hatte. (Es war keine besonders gute Arbeit. Die grünen und orangeroten rechteckigen Plättchen waren schief und krumm aneinandergelegt worden. Der Kursleiter hatte ihre Großmutter ständig ermahnt, weil sie beim Unterricht zu viel plapperte.)
Mitten auf dem Tisch stand ein Buch, sorgfältig arrangiert wie ein Verkaufsexemplar in einer Buchhandlung. Eine rosarote Kamelie lag schräg daneben.
Ein eisiger Daumen strich Ellens Wirbelsäule entlang. Das Buch war jenes, das sie Saskia geliehen hatte. Sie hatte es wie versprochen zurückgebracht. Ellen nahm es in die Hand und blätterte die Seiten durch. Keine Nachricht. Keine außer der unheimlichenArt, wie es platziert worden war, und der Blume. Was hatte die Blume zu bedeuten?
»Bin ich hier richtig bei der Hypnotherapeutin?«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Ellen fuhr zusammen und stieß einen quiekenden Schreckensschrei aus.
»Oh, bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken!« Unten an der Verandatreppe stand ein Mann Ende vierzig, Anfang fünfzig und blickte bedauernd zu ihr auf. Er hielt ein Notizbuch, an dessen Seite ein Kugelschreiber klemmte, in der Hand und trug ein Freizeithemd, das zwei Nummern zu groß schien. Er sah aus wie jemand, der zu spät zu seiner neuen
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