Alles aus Liebe: Roman (German Edition)
anziehen, und er würde sie niemals wegwerfen. Der Staub kitzelte sie in der Nase, sie musste niesen.
»Gesundheit«, sagte Patrick. »Tja, also, wie gesagt … es ist der letzte Sonntag im Monat.«
Ellen schaute die nächste Schachtel an. »Alte Hemden« stand darauf. Ein feuchter, modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Bei näherem Hinsehen entdeckte sie tatsächlich einen pelzigen Schimmelfleck an einer Seite des Kartons.
Patrick war ein zwanghafter Sammler. Er hamsterte. Das hatte sie nicht gewusst. Sein Haus hatte bei jedem ihrer Besuche sehr ordentlich und aufgeräumt ausgesehen. Er musste diese Kartons in Schränken und in seiner Garage gestapelt haben.
Etwas kitzelte sie im Hals, und sie musste abermals niesen.
»Und wie viele Kartons, denkst du, werden es noch sein?« Ellen bemühte sich um einen möglichst beiläufigen Ton.
»Oh, das ist erst der Anfang«, erwiderte Patrick fröhlich. »Wir haben viele Jahre in diesem Haus gewohnt. Da sammelt sich eine Menge an.«
Ellen fühlte eine wachsende Hysterie in sich aufsteigen.
»Warum? Nervt es dich? Das ist nur vorübergehend. Ich habe nicht vor, deinen Flur in einen Lagerraum zu verwandeln.« Er legte seine Hand auf ihre Hüfte.
»Das meiste von diesem … diesem Zeugs hättest du direkt auf die Müllkippe fahren sollen.« Ellen machte eine leichte Seitwärtsbewegung, sodass seine Hand herunterfiel. »Du würdest es überhaupt nicht vermissen.«
Sie kannte diese kühle, knappe Stimme. Es war die Stimme ihrer Mutter. Julia hatte erst vor Kurzem zu ihr gesagt, sie rede immer häufiger wie ihre eigene Mutter, worauf Ellen geantwortet hatte: »Das wird mir bestimmt nicht passieren!«
Anne hatte eine heftige Abneigung gegen »Zeugs«. (Sie spie das Wort aus wie ein derbes Schimpfwort.) Als Ellen noch klein war, verschwanden immer wieder ein paar von ihren Spielsachen oder Kleidungsstücken. »Du hast das Zeugs doch seit Wochen nicht mehr in der Hand gehabt«, sagte ihre Mutter jedes Mal, wenn Ellen entdeckte, dass sie wieder etwas von ihren Sachen »den Armen« gespendet hatte. Ellen hatte die Familien ihrer Freunde stets um die chaotischen Küchen beneidet, in denen auf jedem freien Fleckchen irgendwelcher Kram herumstand, um gerahmte Fotos in vollgepfropften Bücherregalen, um Magnete, mit denen Schulbelobigungen und bunte Zeichnungen am Kühlschrank befestigt wurden. Ihr Zuhause, ja, ihr ganzes Leben wirkte verglichen damit so furchtbar steril. Für Ellen war Unordentlichkeit gleichbedeutend mit Liebe und Wärme und jenen freundlichen, unscheinbaren, rundlichen Müttern, die ihren Kindern zerstreut ein Erdnussbutterbrot anboten, bevor sie schnell wieder an den Herd oder zu ihren Wäschebergen zurückkehrten.
War Anne, was selten vorkam, früher einmal zu Hause gewesen und Ellen hatte Freundinnen zu Besuch, schenkte ihre Mutter ihnen viel zu viel Aufmerksamkeit. Sie spießte sie regelrecht auf mit ihren blauvioletten Augen, servierte ihnen Zitronensaft (welches Kind trinkt schon gerne Zitronensaft ?), fragte sie nach ihren Ansichten zu aktuellen Ereignissen (sie hatten natürlich keine Meinungen, außer Julia, die Ellens Mutter ganz toll fand) und machte sarkastische Witzchen, die die Kinder nicht verstanden.
Ellen konnte nicht fassen, dass sie gerade eben das Wort »Zeugs« im gleichen Zusammenhang verwendet hatte wie ihre Mutter. Das bewies eindeutig, wie sehr Kindheitserfahrungen im Unterbewusstsein verankert waren. Sie würde sich irgendwann, wenn sie Zeit hatte, ernsthaft mit dem Thema beschäftigen und ihre wahren Gefühle analysieren müssen, sonst konnte es gut sein, dass sie eines Tages den Freunden ihres Kindes auch Zitronensaft servierte.
»Es nervt dich doch «, stellte Patrick fest. »Hör zu, ich verspreche, dass bis zum Wochenende alles fort ist, okay?«
Er sah so süß und zerknirscht aus, dass Ellen vor Liebe zu ihm dahinschmolz und das schlechte Gewissen ihr Tränen in die Augen trieb. (Schwangerschaftshormone! Es war faszinierend, wie sehr sie ihre Emotionen beeinflussten.)
»Klar, das hat keine Eile, das war dumm von mir.« Sie blinzelte die Tränen weg und ging Patrick nach in die Küche, ohne die Kartons weiter zu beachten. »Was wolltest du sagen wegen Sonntag?«
Patrick setzte den Wasserkessel auf. Das tat er jedes Mal, kaum dass er die Küche betreten hatte. Er hielt es für ganz selbstverständlich, dass sie eine Tasse Tee zusammen trinken würden. Die Zeremonie hatte etwas Altmodisches und erinnerte Ellen an jemanden.
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