Alles bestens
Dunst, und mir war, als würden all die Leute vom Alexanderplatz durch mein Gehirn wandern. Es tat nicht weh, es war weich wie ein Wattenmeer, auch wenn sie spitze Schuhe anhatten. Aber sie traten Lawinen von Gedanken locker, und so wurde ich überrollt von Lebensweisheiten, und was blieb, war pure Erleuchtung.
Erleuchtung Nr. 1 : Ich hatte keine Eile, keine Verpflichtungen und deswegen keinen Druck. Ich erkannte, dass man im Hier und Jetzt am besten leben konnte, auch wenn es auf dem verkackten Alex war.
Erleuchtung Nr. 2 : Ich fühlte mich wohl, so wie ich war, mit all meinen Pickeln und Fehlern, und deswegen konnten sich andere auch in meiner Gegenwart gut fühlen.
Erleuchtung Nr. 3 : Lass die Zeit kommen und gehen wie einen Windhauch, der dich streift, ohne ihn einfangen zu wollen.
Echt, Leute, andere in meinem Alter brauchen jede Menge Drogen, um so viel und so klar zu denken. Ich brauchte nur einen freien Tag, ein paar Fluppen und zwei Sandras dazu. Ich war voller Zuversicht, dass mir noch heute etwas Sexuelles zustoßen würde, schließlich hatte der verdammte Tag schon so heiß angefangen. Aber noch schien die Sonne und in meinem Alter vögelt man nicht am helllichten Tag. Wir rauchten und klebten mit den Beinen aneinander, und es tat sogar ein bisschen weh, als wir irgendwann aufstanden und gingen. Jeder hatte einen roten Streifen am Bein, der sich bei jedem Schritt verflüchtigte, wie die Kondensstreifen am Himmel.
Wir wollten zu einer Freundin von Sandra II .
»Kleine Party für den Hunger zwischendurch«, sagte sie.
Am U -Bahn-Schacht verkaufte Sandra II vier Schachteln Zigaretten an zwei Mädchen. (Wie viel Schachteln bekommt dann jede?)
»Ich bessere damit mein Taschengeld auf«, sagte sie.
Wir stiegen die Treppen zur U -Bahn hinab, U 2 . Ich musste an den guten Bono denken, der was für die Welt tut und nicht so raffgierig ist wie viele andere berühmte Ärsche, Beckham zum Beispiel. Der verdient am Tag mindestens 50000 Euro. Ist doch pervers so was. Und jetzt gibt es sogar noch ein Parfüm von ihm. Möchte mal wissen, wer sich das auf die Eier sprüht.
Sandras Gesicht spiegelte sich in der U -Bahn-Scheibe gegenüber. Sie guckte mich an, sah mich aber nicht, ein Blick, als würde sie gar nichts sehen. Hatte sie einen Abschalteknopf für ihre Umwelt?
Wir fuhren zum Prenzlauer Berg. Auf der Schönhauser Allee dröhnte aus jedem Laden Musik. Sandra II wollte noch schnell zu H&M , was abgreifen. Bis ich geschnallt habe, dass sie es ernst meint, hatte sie schon ein hauchdünnes Kleid unterm T -Shirt.
»Leg das wieder weg, das ist kitschig und tüddelig!«, sagte eine Mutter hinter mir zu ihrer kleinen Tochter. Meine Knie waren weich wie Tiramisu. Als wir durch die Tür gingen, lächelte Sandra den Wachmann an und ich machte mir fast in die Hose. Aber nichts piepte, niemand lief hinter uns her. Wir standen wieder auf der Schönhauser und kniffen die Augen zusammen; Sandra mit ihrer neuen Abendgarderobe. Es roch nach Currywurst, Döner und Pennerpisse. Wir wurden angerempelt, angebettelt, jemand drückte uns Zettel vom Tierschutzverein in die Hand. Darauf war ein gerupftes Kaninchen zu sehen, dem man zu viel Lippenstift in die Augen geschmiert hatte. Sandra rannte ein Klappschild um: » 70 % weniger Hornhaut in 21 Tagen!« Aus dem Computerladen an der Ecke rief eine Stimme aus dem Lautsprecher über der Tür: » 54 -mal schneller im Internet … Hol es dir … jetzt!«
Ich tapste neben Sandra her und verstand nicht mehr, was ich mir holen musste, damit ich 54 -mal schneller ins Internet kam, ich versuchte auszurechnen, wie schnell ich jetzt ins Internet komme und wie schnell ich im Internet wäre, wenn ich 54 -mal schneller wäre. Wahrscheinlich schneller als ein versauter Gedanke. Will man das überhaupt?
Die Frage beschäftigte mich bis zur nächsten roten Ampel. Ich kam zu dem Entschluss, dass man das Wesentliche im Leben eh auf die altmodische, langsame Art herausfinden musste, nämlich durch eigene Erfahrung. Und damit man die wesentlichen Erfahrungen im Leben auch machen konnte, brauchte man andere Leute dazu. In meinem Fall weibliche, wenn ihr versteht, was ich meine.
Als ich da auf der Schönhauser langschlenderte, wurde mir klar, dass ich 16 Jahre lang in Zehlendorf wie unter Cellophan gelebt hatte, inmitten von süßen Milkshakes, blühenden Vorgärten und Fünf-Minuten-früher-Nachrichten. Meine Eltern hörten diesen bekloppten Sender zum Frühstück, der fünf Minuten früher
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