Alles bleibt anders (German Edition)
aufpassen, was die Frau sagte, denn sie rasselte ihre Sätze in einem Atemzug und ohne jegliche Betonung herunter, wie sie es wohl hunderte Male täglich, tausende Male wöchentlich tat.
Abschätzend sah die Frau zuerst Frank und Tristan, dann jedem weiteren Fahrgast direkt in die Augen, sofern dieser selbst nicht betreten zu Boden stierte oder geschäftig in sein mitgebrachtes Buch oder seine Tageszeitung vertieft war.
Ein Mann zückte tatsächlich seine Brieftasche. Er sah selbst nicht wesentlich wohlhabender aus als die Frau in ihren abgetragenen Kleidungsstücken. Er drückte ihr mehrere Münzen in die Hand. Als sie sich bedankte und ihm eine Zeitschrift überreichen wollte, winkte er jedoch freundlich ab.
Bei der nächsten Haltestelle verließ die Frau den U-Bahn-Waggon wieder.
Von irgendwo her erklang Mozarts 'Kleine Nachtmusik'. Die Frau, die neben Tristan saß, wühlte aufgeregt in ihrer Handtasche, bis sie schließlich ein fast nur briefmarkengroßes Telefon herausfischte und es auf die doppelte Größe aufklappte. Die 'Kleine Nachtmusik' war abrupt zu Ende und die Frau hielt das Telefon ans Ohr, was für Tristan wirkte, als hätte sie gar nichts in der Hand und spräche einfach in ihre Faust.
»In der U-Bahn. Am Kottbusser Tor«, sagte sie und nach einer kurzen Pause: »Ja, ich dich auch.«
Dann klappte sie das Telefon wieder zu und steckte es weg.
Wahrscheinlich Kontrolle durch ihren Ehemann, schloss Tristan.
Frank indes wunderte sich gerade über einen etwa vierzehnjährigen Jungen, der als einziger von all den Menschen, die ihnen bereits begegnet waren, eine Wollmütze trug. Die Sonne hatte inzwischen die letzten Reste der Nacht vertrieben und der durch die U-Bahn-Fenster zu erkennende Himmel versprach einen warmen, wolkenfreien Tag. Der Junge mochte zweifellos schwitzen unter seiner weißen Mütze, aus der zwei dünne Kabel an beiden Seiten des Kopfes hervor ragten und dann in der Innentasche seiner Jacke verschwanden. Die Augen geschlossen, wiegte der Junge seinen Kopf rhythmisch hin und her. Seine Hose, sein Pullover und seine Jacke waren viel zu groß, was Frank vermuten ließ, dass er die Sachen seines großen Bruders auftrug.
'Prinzenstraße' las Frank auf dem Schild des Bahnhofs, an dem sie gerade hielten.
Hier stieg eine äußerst gebrechlich wirkende Frau ein. Die Leute, die wegen der voll besetzten Bänke im Gang standen, wichen zur Seite, damit sie sich an einer der Stangen festhalten konnte.
Frank wollte aufstehen, um ihr seinen Platz anzubieten, doch der Junge mit der Wollmütze war schneller. Die Frau bedankte sich bei ihm, was der Junge mit einem Kopfnicken quittierte, um dann wieder in seine verträumten Kopfbewegungen zu flüchten.
Da fiel Frank ein, dass er eigentlich hatte überprüfen wollen, wie sich das Stadtbild gestaltete; wie sehr sich zum Beispiel die Architektur der Großbeerenstraße unterschied. Die U-Bahn musste sie hier irgendwo kreuzen. Und ob man die Dreifaltigkeitskirche oder gar Albert Speers Prachtbauten sehen konnte, sofern sie existierten.
Jetzt waren sie jedoch bereits fast an ihrem Ziel angekommen, die Menschen hier im Waggon hatten viel zu sehr seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Er reckte den Kopf, doch es gab keinen Bezugspunkt da draußen, der ihm weiterhelfen konnte.
'Hallesches Tor, Übergang zur U6 und zum Metro-Bus', erklang eine weibliche Stimme, was Frank und Tristan zum Aussteigen veranlasste.
Über eine Treppe gelangten sie nach unten, dann gerade aus und durch den nächstgelegenen Ausgang ins Freie. Wieder standen sie neben einem Verkaufsstand, an dem groß diese zwei unbekannten Wörter prangten, auf die sie schon vorhin gestoßen waren. 'Nur zwei Euro, der beste der Stadt' stand daneben, ihre Mägen knurrten, doch hatten sie zum einen kein Geld und zum anderen Wichtigeres zu tun: Sie mussten diese Bücherei finden.
Zumindest dies gestaltete sich einfacher als befürchtet. Als sie sich umdrehten, stand sie genau in Blickrichtung. 'Sie', das war ein mehrstöckiger Klotz, ein überdimensionierter Quader. Hinter Bäumen, auf der anderen Straßenseite ragte das Gebäude hervor, das ein quadratisches Grundmuster mit im Rösselsprung angeordneten Fenstern zierte und auf dessen Flachdach sich die Großbuchstaben GEDENKBIBLIOTHEK gegen den blauen Himmel abzeichneten.
Wie sie es gelernt hatten, gingen Frank und Tristan bei 'rot' über die Straße, was dieses Mal ein lautes Hupen eines aufgebrachten Lastwagenfahrers hervorrief. Sie rannten, damit sie nicht
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