Alles bleibt anders (German Edition)
teilnahmslos.«
Luise nahm einen Schluck Tee.
»Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich Ernst am nächsten Tag alleine in der Wohnung ließ. Doch ich hatte die Hoffnung, diesem Spuk vielleicht ein Ende bereiten zu können und so stieg ich in die Kutsche, die pünktlich um neun vor dem Haus stand. Geradewegs zum Leichenschauhaus, bei dem mich der Uniformierte von gestern Abend bereits erwartete.
'Machen Sie sich auf das Schlimmste gefasst!' sagte er, als er das Tuch von dem dort aufgebahrten Körper wegzog.
'Nein, das ist nicht mein Sohn!' sagte ich sofort.
Vor mir lag ein Mensch, nur mit großer Mühe konnte ich erkennen, ob es eine Frau oder ein Mann war. Mehrere Wunden, der Brustkorb war eingedrückt, man konnte teilweise die Rippen sehen. Der linke Arm lag da, in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt, der rechte Arm und das rechte Bein fehlten gänzlich.
'Sie haben ihm noch gar nicht ins Gesicht gesehen.'
Ich blickte an ihm hoch und sah in das völlig entstellte Gesicht. Blutunterlaufene Augen, aufgedunsene Wangen, aufgesprungene Lippen, an der Stelle, an der das rechte Ohr gewesen war, war eine formlose Fleischmasse.
'Das ist nicht mein Sohn!' wiederholte ich.
Der Gendarm verdeckte den Körper wieder und führte mich in ein angrenzendes kleines Büro.
'Wir haben den Ausweis Ihres Sohnes bei der Leiche gefunden.'
Er glaubte mir nicht.
'Wann haben Sie Ihren Sohn zum letzten Mal gesehen?'
'Gestern war er bei meinem Mann und mir beim Abendessen.'
'Welche Kleidung trug er da?'
Ich kam nicht umhin, ihm exakt die Kleidungsstücke aufzulisten, die ich an der Leiche wieder erkannt hatte.
'Wie ist es passiert?'
'Der Tote wurde gestern Abend auf den Gleisen am Görlitzer Bahnhof von einem Schaffner entdeckt. Ein Zug muss ihn kurz davor erfasst und etliche Meter mitgerissen haben. Die entsprechenden Spuren konnten wir an der Lokomotive finden. Hatte Ihr Sohn Selbstmordabsichten?'
Ich sah zur Tür, in Richtung der Leichenhalle.
'Das ist nicht mein Sohn.'
Dann stand ich auf und ließ mich zurück zu deinem Vater fahren. Er saß genau so im Sessel, vor sich hin starrend, wie ich ihn etwa zwei Stunden vorher verlassen hatte. Das Buch über Marco Polo lag aufgeschlagen auf dem Beistelltisch, so wie er es am Abend davor hingelegt hatte, als es an der Tür klopfte. Er hat nie wieder darin gelesen.«
»Wie ging es weiter?«, wollte Frank wissen.
»Ich habe jeglichen Kontakt mit den Behörden gemieden. Alles unternommen, damit dein Vater nicht mehr mit dem Thema konfrontiert wird. Sein Zustand wurde nicht besser. Ich habe gebetet, du mögest endlich vor unserer Tür stehen, so als wäre nichts gewesen, und deinen Vater aus seiner Lethargie befreien. Ich hörte es in meiner Fantasie mehrmals an der Tür klopfen, öffnete sie und stierte doch nur ins leere Treppenhaus. In Gedanken malte ich mir aus, du wärest überfallen worden. Irgendein Dieb hätte dir deinen Ausweis und deine Kleidung geraubt und wäre auf der Flucht vor den Zug gerannt. Wo du selbst abgeblieben warst, konnte ich mir nicht erklären.«
»Wie ist Vater gestorben?«
»Einfach nicht mehr aufgewacht, eine Woche später. Er lag morgens kalt und steif neben mir. Er muss bei meinem Erwachen bereits mehrere Stunden tot gewesen sein. Dr. Anklamer meinte, er habe wohl unter keinen körperlichen Schmerzen gelitten. Danach war mir erst mal alles egal. Widerstandslos habe ich zugestimmt, dass der immer noch nicht bestattete Tote aus dem Leichenschauhaus zusammen mit meinem Mann begraben wurde. Du bliebst verschwunden, schweren Herzens, und unter Druck aus der Gemeinde, ließ ich neben Ernsts auch deinen Namen auf den Grabstein gravieren. An deinen Tod wollte ich niemals glauben.«
5
Mittlerweile war es früher Nachmittag geworden und Franks erschöpfter Zustand war Luise nicht unbemerkt geblieben. Sie bot ihm an, sich ein wenig hinzulegen und Frank nahm den Vorschlag dankend an.
»Eine Fotografie?«
Der Mann, der sie freundlich anlächelte, hatte sein Stativ mitten auf der viel belebten Uferpromenade aufgebaut. Gute Geschäfte hatte er sich vom sonnigen Wetter versprochen und seine Rechnung war aufgegangen.
Mehrfach war seine Ansprache heute schon erfolgreich gewesen. Immer wieder postierte er die hier Flanierenden so, dass er sie, den See im Hintergrund, gut im Licht hatte. Dann verschwand er unter der Abdeckung seiner Apparatur, drückte auf einen Knopf und löste damit die notwendige chemische Reaktion aus: Es blendete für einen Moment die Augen der
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