Alles bleibt anders (German Edition)
auf der Straße wieder erkannt. Sobald sie sich gegenübergestanden hatten, hatte das Gehirn des jungen Mannes spontan eine seltsame Reaktion in die Wege geleitet. Plötzlich konnte er sich wieder an alles erinnern, was vor seinem Gedächtnisverlustes vor fünf Jahren war, an alles danach – dass er es in Nürnberg zu großem Wohlstand gebracht und in eine einflussreiche Familie eingeheiratet hatte – hatte er vergessen. Möglicherweise, Herr Miller, ist Ihr Fall ähnlich gelagert.«
»Sie meinen, ich hätte die vergangenen drei Jahre irgendwo mit einer anderen Identität ein ganz normales Leben geführt?« »Das kann zumindest nicht ausgeschlossen werden.« »Und als ich, aus welchen Gründen auch immer, den Görlitzer Bahnhof wieder sah, den Ort, an dem die Misere ihren Anfang nahm, da war die Erinnerung an die letzten drei Jahre verschwunden und Fragmente aus der Zeit davor tauchten wieder an die Oberfläche?«
»Zum Beispiel!«
Frank dachte an das seltsame Medaillon, das er getragen hatte.
Waren SG nun doch seine eigenen Initialen?
Die Initialen eines Namens, unter dem er Gott-weiß-wo gelebt hatte?
»Sigmund Freud lässt grüßen«, sagte Frank, bei weitem nicht überzeugt von den Theorien des Psychiaters. »Sigmund, wer?« »Sigmund Freud, der große Meister Ihres Faches«, und als Dr. Hohmann ihn immer noch die Stirne runzelnd ansah, ergänzte er: »Aus Wien!« »Sigmund Freud«, murmelte der Psychiater. »Sigmund Freud. Aus Wien. Soll mir das irgendetwas sagen?« Frank ignorierte die Frage und beschäftigte sich wieder mit seiner eigenen Geschichte. »Was kann ich am Sonntagvormittag am Görlitzer Bahnhof gewollt haben?« »Nun, aus Ihrer Kleidung lässt sich ja nicht gerade viel schließen. Sie könnten überprüfen, welche Züge dort am Morgen eintrafen. In der Regel kommen da hauptsächlich Züge aus Dresden und dem Spreewald an, doch über Dresden fahren beispielsweise auch die Züge, die aus Wien kommen. Vielleicht sind Sie vor drei Jahren, geistig verwirrt, bis Dresden oder Wien gefahren und haben sich dort in den vergangenen Jahren eine neue Existenz aufgebaut. Dann wird man Sie vermutlich inzwischen dort vermissen. Sie müssen sowieso zur Gendarmerie und zum Bürgeramt, damit man Sie auch offiziell wieder von den Toten zu den Lebenden holt. Sie sollten den Beamten vorschlagen, ihre Kollegen in Dresden und in Wien zu kontaktieren, ob dort jemand vermisst wird, auf den Ihre Beschreibung zutrifft.«
Dann sah er kurz auf die Patientenkarte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
»Wo wohnen Sie im Moment, Herr Miller?«
»Bei meiner Mutter.«
»Das ist gut. Sie benötigen Strukturen. Wenn die Strukturen wachsen, erhellen sich automatisch auch die dunklen Kammern dazwischen.« Dr. Homanns Optimismus steckte an. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Dr. Hohmann. Sie haben mir sehr geholfen und mich auf viele neue Gedanken gebracht. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, zumindest eine grobe Ordnung in meinen Überlegungen gefunden zu haben. Vor dem Besuch hatte ich eine ganz andere Erwartung und hatte kaum Hoffnung, dass er mich in irgendeiner Weise vorwärts bringt.«
»Tja, wenn man vorhersehen könnte, wie der Psychiater einem hilft, dann bräuchte man ihn nicht, oder?« Da war es wieder, das obligatorische Zwinkern. »Und Sie mussten sich nicht mal auf ein Sofa legen!«, grinste er.
Frank fragte sich, ob er ihm noch von dem gestrigen Überfall erzählen sollte.
»Etwas beschäftigt Sie noch, Herr Miller?«
»Da ist dieses Symbol«, fiel Frank da ein. »Ich habe vorletzte Nacht davon geträumt und letzte Nacht schon wieder.« »Was für ein Symbol?« »Ein Kreuz mit abgewinkelten Enden: ein Hakenkreuz. Es ist schwarz und in einem weißen Kreis. Außerhalb des Kreises ist in meinem Traum alles rot.« Dr. Hohmann überlegte kurz. »Nein, ich kenne so ein Symbol nicht!« Und als er Frank zur Tür brachte und ihm beherzt die Hand schüttelte, ergänzte er:
»Gott sei mit Ihnen!«
9
Draußen, auf der Straße vor der Praxis, fuhr gerade ein Bus an und verließ seine Haltestelle. Es war einer von jenen, die bereits motorgetrieben waren und die Frank schon öfter im Stadtbild gesehen hatte. Der Bus fuhr nach Norden und da das genau die Richtung war, in die Frank wollte, sprang er beherzt hinten aufs Trittbrett. Der dort stehende Schaffner schüttelte nur den Kopf, enthielt sich aber eines Kommentars zu Franks gewagter Aktion.
»Fahren Sie zur Charité?«
Der Schaffner nickte und brummelte etwas in seinen Bart.
Frank
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