Alles bleibt anders (German Edition)
zu einer Antwort war er nicht fähig.
Seine Augen sahen erschrocken nach unten auf seine Brust, an der immer noch Franks rechte Hand an seinem Kittel festhielt, und zurück in Franks Gesicht.
»Erkennen Sie mich? Mein Name ist Frank Miller!«
Das war zu viel für den Mann im weißen Kittel und für einen kurzen Augenblick schwanden ihm die Sinne. Franks Linke stützte den Rücken und seine eingekrallte Rechte hielt den Arzt aufrecht. Kurz darauf spürte Frank, dass sich der andere wieder gefangen hatte und selbständig stehen konnte. Er ließ ihn los.
Eine Frau, die neben ihnen angehalten hatte und sie beobachtete, blickte rasch zur Seite und ging weiter, als Frank ihr streng in die Augen sah.
»Das gibt es nicht«, murmelte der Arzt. »Frank?«
»Ja«, bestätigte dieser.
»Aber, du bist … tot.«
»Ganz ruhig. Es ist eine lange Geschichte. Ich kann alles erklären.«
Nun, letzteres stimmte zwar ganz und gar nicht, aber Franks Absicht, den anderen zu beruhigen, funktionierte.
Frank wollte schon mit »Sagen Sie mir doch bitte erst mal, wer Sie sind!« fortfahren, korrigierte sich aber gerade noch rechtzeitig auf »Sag mir doch bitte erst mal, wer du bist!«
»Aber Frank, ich bin 's doch: Jakob. Jakob Levy!«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Frank frei heraus. »Mein Gedächtnis. Es hat Lücken.«
Eine gnadenlose Untertreibung, dachte Frank.
»Wie gesagt: eine lange Geschichte.«
Der Totgeglaubte stand leibhaftig vor ihm; Jakob kam nicht umhin, dies zu akzeptieren.
Noch einmal wiederholte er seinen Vor- und Zunamen und redete nun zunehmend beschwörend auf ihn ein.
»Wir haben zusammen studiert. Dass das alles vergessen sein soll. Wir waren dicke Freunde, Frank, das ist ja furchtbar.«
Wieder war jemand neben den beiden stehen geblieben, der die beiden auffällig Artikulierenden neugierig ansah.
»Können wir irgendwohin gehen, wo wir ungestörter sind?«, schlug Frank vor.
»Hier drüben. Die 'Bürgerstube', sie hat mittags geöffnet.« An einem Kettchen zog Jakob eine goldene Taschenuhr aus einer Kitteltasche hervor, klappte sie auf und las die Zeit ab. »Um eins muss ich allerspätestens wieder auf der Station sein. Tut mir Leid. Die Pflicht. Du kennst das ja.«
Erst als er den letzten Satz ausgesprochen hatte, wurde ihm der Fauxpas bewusst. Verlegen sah er zu Boden.
»Schon gut«, meinte Frank. »Ja, lass uns in die 'Bürgerstube' gehen.«
Der Geruch von Fett und Bier schlug Ihnen entgegen, als sie den Gastraum betraten, durchmischt von den Aromen diverser Tabaksorten. Sie nahmen an einem der rustikalen Tische Platz. Jakob bestellte sich Eisbein mit Sauerkraut und nachdem er Frank davon überschwänglich vorschwärmte, schloss sich dieser der Wahl an. Die Bedienung in kurzem schwarzen Rock und weißer Schürze notierte für Jakob eine Fassbrause und starrte Frank die Stirn runzelnd an, als er sich für ein Malzbier entschied.
»Det ham wer nich'!«, sagte die junge Frau keck und Frank wählte ohne weitere Diskussion ebenfalls eine Fassbrause.
In knappen Sätzen erzählte Frank von seiner Flucht vom Gelände des Görlitzer Bahnhofs vom Sonntag-Abend als dem Zeitpunkt, bis zu dem sein Gedächtnis zurückreichte, von der Suche nach seiner Mutter und dass er dort untergekommen war. Auch die Vermutungen Dr. Hohmanns unterbreitete er ihm. Er versuchte, ihm nur das Notwendigste zu berichten, verschwieg beispielsweise den Überfall auf ihn und unterließ es, ihn etwa nach dem mysteriösen Medaillon zu befragen.
Obwohl er instinktiv Vertrauen zu Levy hatte; er wusste nicht, wer früher seine Freunde und wer seine Feinde waren oder wie die Bekannten von damals heute zu ihm standen.
Als Frank Claire erwähnte, erhöhte sich Jakobs Aufmerksamkeit.
»Sie ist mit einem Dieter Wiegand verheiratet, einem Studienfreund von uns.«
Das letzte Wort kam Frank mit zeitlicher Verzögerung über die Lippen, der ganze Satz war gleichzeitig Aussage und Frage.
»Studienfreund? Wer hat den ehrenwerten Doktor denn so bezeichnet?«
Frank stutzte ob des sarkastischen Tonfalls seines Gegenübers.
»Meine Mutter. Warum?«
»Nun, wir waren alle im gleichen Studiengang, das ist richtig. Zu Wiegand hatte ich aber während des Studiums dennoch so gut wie keinen Kontakt. Und du ebenso wenig. Ich wüsste es, wenn es anders gewesen wäre. Er war ein Einzelgänger und Sonderling, seltsame Thesen, die er vertreten hatte, sowohl was die Medizin betrifft, als auch, was die Tagespolitik angeht. Ihn als einen 'Freund' zu bezeichnen, käme mir absolut
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