Alles bleibt anders (German Edition)
Claire tonlos fort.
»Aber Franks Mutter …«, begann Frank zu widersprechen, doch als er merkte, dass er ganz unbewusst 'Franks Mutter' und nicht 'meine Mutter' formuliert hatte, verstummte er.
Claire ließ sich nicht anmerken, ob ihr die Feinheit aufgefallen war.
»Franks Mutter hätte den Toten auch nicht als ihren Sohn identifiziert, wenn sein Gesicht unverletzt gewesen wäre. Sie klammerte sich mehr als alles andere an die unbegründete Hoffnung, ihr Sohn könnte noch am Leben sein, irgendwo, in einer anderen Stadt, in einem anderen Land. Vom ersten Moment, als die Gendarmerie ihr und ihrem Mann die Nachricht überbracht hatte, hatte sie wohl gespürt, dass Franks Ende auch der Todesstoß für Franks Vater sein würde. Deswegen hätte sie sich nie eingestanden, dass Frank nicht mehr am Leben sei. Auch nachdem ihr Mann gerade mal eine Woche nach seinem Sohn starb, blieb sie dabei. Ich glaube, sie hat den Tod von beiden niemals akzeptiert. In der Zeit nach den Begräbnissen haben wir uns oft besucht, später wurde der Kontakt immer weniger. Ich habe mehrmals gehört, wie sie in ihrer Wohnung mit ihrem toten Mann und ihrem toten Sohn sprach, als wären sie noch am Leben.«
Frank ließ die Worte auf sich wirken, wollte Claire auf keinen Fall reizen und dennoch widersprach er ihr.
»Vielleicht war ihre Hoffnung doch nicht so unbegründet: Ich bin hier!«
Claire drehte sich zu ihm und Frank zuckte zusammen, so ernst war ihr Blick.
»Sie sind nicht Frank Miller!«
Ruckartig stopfte sie ihr Taschentuch zurück in ihre Handtasche, stand auf und ging davon, ruhigen, normalen Schritts, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ein Rabe landete auf einem Mülleimer, nahe der Bank. Den dort sitzen Gebliebenen misstrauisch beäugend, begann er damit den Müll fachmännisch mit seinem Schnabel herauszuzerren, um ihn kraftvoll fort zu schleudern. Hin und wieder war er erfolgreich und fand etwas Essbares. Bald war der ganze Umkreis mit Müll bedeckt.
Frank schloss seine Augen und in seinen Gedanken war der Rabe auf seinem Haupt gelandet und pickte aus seinem Gehirn all die Erinnerungsfetzen hervor, um sie in weitem Bogen und ohne System auf den Boden zu werfen. In seiner Vorstellung griffen seine Hände danach und stopften die Teile wieder in seinen Kopf, doch der Rabe ließ sich das nicht gefallen, pickte nach seinen Fingern und ließ sich nicht an seiner Arbeit hindern. Franks Kopf blieb mit Fragmenten gefüllt, die ohne inneren Zusammenhang schienen.
Plötzlich hörte Frank ein Knacken hinter sich, vielleicht ein Ast, der zerbrach.
Rasch drehte er sich um.
War Claire doch noch einmal zurückgekehrt?
Gerade noch sah er einen Schatten, wie er hinter einer Kiefer verschwand.
Es war nicht Claire, es war der Mann, den er heute schon einmal beobachtet hatte. Der Mann, der sich gebückt hatte, um seine Schuhe zu binden, als Frank zu ihm hinüber geblickt hatte. Er erkannte die schwarze Cordhose wieder und auch das beigefarbene Hemd. Einen Zufall hielt Frank für sehr unwahrscheinlich.
Frank wollte herausfinden, ob er Recht hatte.
Er erhob sich und folgte dem Weg, den auch Claire vor ein paar Minuten gegangen war.
Aufmerksam, aber dennoch unauffällig, wollte er sich verhalten. Bei jeder Biegung sah er sich um und bemühte sich, es so aussehen zu lassen, als sei er einfach sehr an der Natur interessiert. Einmal beobachtete er einen Zeisig, der auf einem Ast vor sich hin pfiff, das andere Mal roch er an einer Blüte am Wegesrand oder befühlte die Rinde einer alten Eiche. Den Unbekannten entdeckte er nicht mehr.
Entweder er hatte sich getäuscht oder der Verfolger war nun vorsichtiger geworden.
Schließlich erreichte Frank den Spreetunnel. Hier wollte er Gewissheit erlangen. So lange Frank im Tunnel war, würde sich der Fremde sicher nicht hineinwagen. Also hatte er auf der anderen Seite ein wenig Zeit, um ihm eine Falle zu stellen.
Den Tunnel verlassend, kletterte Frank die Böschung hinauf und versteckte sich hinter einem Busch. Als er sich hinkauerte und alles still war, abgesehen der leisen abendlichen Waldgeräusche, da hörte er Schritte. Sie hallten nach im Tunnel, erzeugten ein deutliches Echo. Die Tonfolge wurde immer schneller und Frank wurde klar, dass die Person nun rannte.
Die Schritte wurden lauter und Frank holte noch einmal tief Luft und hielt dann den Atem an.
Da erschien der Mann wieder, beigefarbenes Hemd, schwarze Hose. Er bremste ab sein Gesicht war von Frank abgewandt – und blickte in die Richtung, in die der Weg
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