Alles bleibt anders (German Edition)
auf den heutigen Abend nicht vorbereitet. Wie Sie wahrscheinlich wissen«, er sah dabei auf Karen, »war ich gestern Mittag noch in Germania und bin erst abends hier in Oxford eingetroffen, um mein Physikstudium zu beginnen.«
Vier Augenpaare sahen ihn abwartend an.
»Was die Chaostheorie betrifft«, kam er auf des Professors Fragestellung zurück, »da fällt mir zu allererst das Beispiel mit dem Schmetterling ein.«
»Erzählen Sie es uns«, munterte ihn Gothaer lächelnd auf.
»Der Vergleich besagt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings, beispielsweise eines Schmetterlings hier in den Cotswolds, Auswirkungen darauf haben kann, ob es morgen in Germania regnet oder nicht.«
»Sehr gut«, lobte der Professor, »die Kernaussage wissen Sie ja noch. Sind Sie auch in der Lage, es etwas wissenschaftlicher zu formulieren?«
»Ich möchte es gerne versuchen: In einem zusammenhängenden System wie beispielsweise dem globalen Wettersystem kann eine minimale Veränderung einen großen Effekt bewirken, denn alles innerhalb des Systems steht in Bezug zueinander.«
Gothaer nickte zustimmend und Frank überlegte weiter.
»Eine spezielle Eigenheit der Chaosforschung, und daraus leitet sich auch ihr Name ab, ist ihr Mangel an Vorausberechenbarkeit.«
»Ja. Weiter?«
»Die Betonung im obigen Vergleich liegt auf 'kann'. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass unser angelsächsischer Schmetterling tatsächlich dafür verantwortlich ist, ob morgen die Menschen in Germania ihre Häuser mit Regenschirmen verlassen müssen. Da unzählbar viele Faktoren für Klima und Wetter verantwortlich sind und im Wechselspiel ihre Wirkungen aufs System ausüben, wird unser Schmetterling zur vernachlässigbaren Größe. Dennoch: Theoretisch könnte er das Zünglein an der Waage werden.«
»Herr Miller, Sie haben die Grundaussage der 'Theorie der nichtlinearen Systeme', wie die Chaostheorie höchst wissenschaftlich tituliert wird, erfasst und uns sehr anschaulich erläutert. Ich danke Ihnen. Lassen Sie uns die Gedanken der Vorausberechenbarkeit etwas weiter spinnen. Wie geht man wissenschaftlich vor, um sich an das Ergebnis einer Gleichung anzunähern, deren Komponenten vor dem Gleichheitszeichen nicht exakt bestimmbar sind?«
»Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Sie möchten gerne wissen, wie man mit hoher Wahrscheinlichkeit das morgige Wetter in Germania bestimmen kann?«
»Ja.«
»Ich meine, die klassischen Wetterprognosen im Fernsehen und in den Tageszeitungen erzielen schon sehr respektable Ergebnisse.«
»Lösen Sie sich von den 'klassischen Wetterprognosen'. Wir wollen dem Problem wissenschaftlich und mit Hilfe der Chaostheorie zu Leibe rücken.«
Frank trank einen Schluck Malzbier und dachte angestrengt nach.
»Ich vermute, die hundertprozentige Lösung gibt es nur in der Theorie. Wer sollte schon sämtliche Variablen in einer Formel erfassen können? Jeden Schmetterling von hier bis Feuerland?«
»Ich versuche, es etwas abstrakter zu formulieren, Herr Miller. Was macht der Wissenschaftler, wenn es ihm nicht möglich ist, ein Ergebnis zu errechnen?«
»Klar«, sagte Frank sofort. »Er führt Versuche durch!«
Und fügte nach kurzem Überlegen hinzu: »Wie soll das funktionieren? In einem System wie dem globalen Wettersystem, in dem unzählbar viele Variable sind, ist ständig und unaufhaltsam Veränderung. Ein wissenschaftlicher Versuch, der diesen Namen verdient, kann nur durchgeführt werden, wenn die Rahmen- und Versuchsbedingungen stets dieselben sind.«
»Oh, wenn ich die Lösung hätte, dann hätte mir der Führer sicher schon eine Medaille verliehen«, lachte Gothaer. »Mir ging es einzig und allein um eine theoretische Lösung. Die ist Ihnen geglückt.«
»Mit etwas Nachhilfe«, meinte Frank.
»Macht nichts. Du bist ja erst seit gestern in Oxford, wie du anfangs sagtest!«, mischte sich Karen ein und lächelte dabei.
Dieter tippte ungeduldig mit seinen Fingerspitzen auf die Tischplatte.
»Wie weit wollen wir noch gehen, Herr Gothaer? Bevor wir fortfahren, möchte auch ich mir sicher sein, mit wem ich es zu tun habe. Karens Wort in Ehren, aber wann hat sie ihn das letzte Mal gesehen?«
Er beantwortete die Frage selbst: »Vor mehr als vier Jahren! Vier Jahre, die er in osteuropäischen Kasernen verbracht hat! Er kann ein völlig anderer Mensch sein!«
Frank unterbrach ihn laut und unerwartet: »Ich bin ein völlig anderer Mensch! Du kennst weder den alten Frank Miller noch den heutigen. Du kannst ihn gerne kennenlernen. Aber
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