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Alles bleibt anders (German Edition)

Alles bleibt anders (German Edition)

Titel: Alles bleibt anders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Langer
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stolz auf ihren Sprössling. Tja, nur sprechen wollte der Kleine nicht. Da die Ergebnisse von Intelligenz- und Reaktionstests äußerst viel versprechend waren und er sich ansonsten körperlich überdurchschnittlich schnell entwickelte, und damit die erneute Bestätigung der Rassen-Doktrin lieferte, hatten alle erwartet, er müsse selbstverständlich viel früher zu reden beginnen, als andere Kleinkinder. Aber der kleine Tristan wollte und wollte einfach nicht sprechen! Die Arzttermine wurden weniger und die Eltern begannen sich für ihren Sohn zu schämen, sie fürchteten sogar Konsequenzen, was ihren Status und ihre Karriere innerhalb der Partei und der Sportorganisationen betraf. Letzten Endes waren sie unfähig gewesen, den Nachwuchs zu zeugen, den sie für Führer und Vaterland gerne gehabt hätten. Schließlich schoben sie Tristan in ein Heim ab. Seine ersten Worte, die er dann schließlich mit sieben Jahren sprach, hörten sie nicht mehr.«
Gothaer erzählte weiter.
»In seiner sprachlichen Entwicklung hinkte er seinen Altersgenossen weiterhin erheblich hinterher. Sein Stottern hat er nie gänzlich besiegen können. Das kompensierte er mit seinen sonstigen schulischen Leistungen und schloss die Oberstufe mit einem Abitur ab, wie es nur wenige vorweisen können, die in einem Heim aufgewachsen sind. Versuche, mit seinen Eltern in Kontakt zu treten, scheiterten. Sie hatten ihn vollständig aus ihrem Leben gestrichen.«
Gothaer nickte Tristan aufmunternd zu.
»Er studiert im Hauptfach Informatik und im Nebenfach Physik und schreibt gerade seine Diplomarbeit. Sein Wissen in der Informatik geht weit über die Studieninhalte der Universität hinaus. Für Oxford, und insbesondere für meine Forschungen, ist Tristan ein sehr großer Gewinn.«
Der Hüne errötete.
»Danke, Herr Gothaer. Jetzt ist aber g-gut.«
»Mein Lebenslauf«, meldete sich Karen wieder zu Wort, »ist ja allen hinlänglich bekannt. Aus meinem Ehrgeiz, es stets besser machen zu wollen als meine männlichen Altersgenossen, habe ich noch nie ein Geheimnis gemacht. Meistens war er von Erfolg gekrönt. Sicher kann der eine oder andere von euch da noch eine köstliche Anekdote aus der Reihe 'Karen legt sich mit Gott und der Partei an' zum Besten geben. Aber ich glaube, wir sparen uns das für einen entspannteren Abend auf.«
»Was mich mit Fräulein Degner verbindet«, richtete der Professor nun seine Worte an Frank, »ist meine Leidenschaft für die Physik. Wie auch bei ihr, war sie bereits in meinen jungen Jahren sehr ausgeprägt und es kristallisierte sich bei mir schon früh heraus, dass dies der Weg war, den ich gehen wollte. Geboren wurde ich 1946 in Hampshire, mein Vater hatte ursprünglich noch unseren alten, englischen Namen getragen: 'Gothare'. Er war übrigens ein Namensvetter von Ihnen, Herr Miller, er hieß 'Frank Gothare'. Nach der Kapitulation Großbritanniens und der Machtübernahme durch die NSDAP hatte mein Vater, wie damals viele andere auch, seinen Namen regermanisiert, wie es seinerzeit genannt wurde. Als Schuljunge lernte ich deutsch, von Lehrern, deren Muttersprache noch eine andere gewesen war, zu Hause unterhielten wir uns in Englisch. Natürlich war ich in der Hitlerjugend. Zum Armeedienst wurde ich herangezogen, obwohl mein Vater im Deutschen Krieg bei der Königlichen Luftwaffe des Vereinigten Königreichs gedient hatte und dieser Makel wie ein Schatten über unserer Familie hing; meine Militärzeit verbrachte ich als Techniker an Bord eines U-Boots, dessen Aufgabe es war, die amerikanischen Flottenbewegungen im westlichen Atlantik zu beobachten. Hinterfragt habe ich den Militärdienst nicht, er war ein notwendiges Übel. Abends in der engen Koje des U-Boots las ich physikalische Abhandlungen, während Kameraden sich eher solchen Publikationen zuwandten, in denen es mehr um Formen als um Formeln ging. Manchmal glaube ich, ich habe früher wie in einer eigenen Welt gelebt. Ich hatte nur Augen und Ohren für die Physik. Alles andere interessierte mich nicht, es fand in meinem Alltag einfach nicht statt. In vertraulicher Runde erhobene Vorwürfe gegen die Partei, über die Einflussnahme des Staates und die tatsächliche Lage im Osten des Deutschen Reichs nahm ich stillschweigend zur Kenntnis: Es betraf mich nicht, es interessierte mich nicht. Zu meiner Schande muss ich heute gestehen, dass ich erst sehr spät, genauer gesagt, vor etwas mehr als fünf Jahren, also zu Beginn des Jahres 1999, Konsequenzen gezogen habe, die ich hätte

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