Alles bleibt anders (German Edition)
Rechner ausgeschaltet hatte.
»Wie meinst du das?«, fragte Frank.
Gothaer erklärte an Tristans Stelle.
»Herr Hartwig ist eher skeptisch, dass ein früher Tod Adolf Hitlers den Nationalsozialismus verhindert hätte. Und ich pflichte ihm bei. Das Gedankengut entstand und wuchs teilweise unabhängig von Hitler. Ich erinnere nur an die Rassenideologie. Hitler war zwar Hauptverantwortlicher, keinesfalls aber Alleinverantwortlicher. Vielleicht gleicht der frühe Nationalsozialismus auch einer Hydra, der sofort ein neuer Kopf wächst, wenn man einen alten abschlägt.«
»Das hört sich weitaus weniger euphorisch an als Karens Worte.«
»Sie kennen Fräulein Degner besser und länger als wir, Herr Miller. Sie ist hitzköpfig, enthusiastisch und erbarmungslos idealistisch. Aber ich kenne niemanden, der leidenschaftlicher und energischer Ziele verfolgt als sie.«
»Sie ist eine Visionärin«, sagte Tristan und Frank glaubte, ein leichtes Glänzen in seinen Augen zu erkennen.
»Karen möchte das Übel an der Wurzel packen und Hitler bereits als Kind beseitigen, Sie beide sind skeptisch, ob das unserer Sache dienlich wäre. Was ist Ihr Alternativ-Vorschlag?«
»Es sind alles Gedankenspiele, Herr Miller, nicht mehr, nicht weniger. Wir sind Wissenschaftler. Was wir brauchen sind Fakten und Gewissheit!«
»Wie bekommen wir diese?«
»Wir müssen schlicht und ergreifend eine alternative Realität finden, in der der Nationalsozialismus im Jahre 2004 nicht existiert. Dann untersuchen wir, was in dieser Ebene anders lief, als in der unseren. Und dann beraten wir, ob und wie wir weiter vorgehen. Vorausgesetzt, wir haben bis dahin die technischen Voraussetzungen geschaffen.«
Frank schien in sich gekehrt. Er war bestrebt, das in den letzten Tagen Erlebte in eine sinnvolle Ordnung zu bringen.
»Die ganze Zeit überlege ich, was die zweite Hälfte der Antwort auf meine Frage sein könnte, warum Sie gerade uns vier ausgewählt haben«, sagte er nach kurzem Zögern, »und ich weiß sie nun: Zum einen stammen wir alle aus der Hauptstadt, zum anderen wären wir auch alle noch dort, wenn der Nationalsozialismus nicht existieren würde. Das ist die fehlende Hälfte.«
»Ich habe erwartet, dass Sie selbst die Zusammenhänge erkennen und Sie haben mich nicht enttäuscht.«
Frank führte seine Gedanken weiter.
»Wir suchen eine alternative Realität, deren Punkt X vor dem 14. März 1999 liegt und in der die Resonanzkörper von Karen, Tristan, Dieter und mir nicht in Oxford leben, sondern in Germania!«
Gothaer nickte bestätigend.
»Aber dazu müssen wir Versuche in Germania durchführen!«
»Ich habe nie behauptet, dass es ungefährlich sein wird.«
Ja, ich könnte es , erinnerte sich Frank an seine Antwort auf Karens gestrige Frage.
»Ich bin dabei«, sprach er leise aus, was dem Professor bereits klar war.
11
Als Karen erfahren hatte, dass Frank hierher nach Oxford kam, hatte sie darauf gedrängt, ihn so schnell wie möglich einzuweihen. Nach den ersten drei Abenden wurden die Treffen, an denen sie zu fünft zusammen kamen, unregelmäßiger. Alle hatten sie ihre Verpflichtungen; seien es Parteiveranstaltungen, bei denen man sich durch Abwesenheit verdächtig machte; sei es eine der vielen sportlichen Leistungen, die ein jeder Student des Reiches zu erbringen verpflichtet war; seien es schlicht und einfach Vorlesungen, die es zu besuchen galt.
Dass immer wieder mal Fremde auf dem Campus auftauchten, verstärkte nur geringfügig ihre Nervosität. Auch schien der eine oder die andere in der Mensa, sie mehr als angemessen über private Dinge und solche das Studium betreffend auszuhorchen. Doch es ging niemals über das Maß hinaus, das sie bereits aus anderen Lebensabschnitten kannten und blieb daher relativ unverdächtig. Die Gestapo und deren Spitzel waren überall, in jeder Stadt, in jedem Dorf, an jedem Arbeitsplatz, in jeder Diensteinheit. Sie wussten das und waren entsprechend vorsichtig.
Weitere 'Reisen' fanden statt. Sie dauerten nie länger als wenige Minuten und führten sie stets in Ebenen, die mit der eigenen nahezu identisch waren. Besonderes Augenmerk legten sie auch darauf, dass weder die Resonanzkörper noch sie selbst zu Schaden kamen. Gesundheitsüberprüfungen nach den Reisen bewiesen, dass es zu keinen messbaren körperlichen Beeinträchtigungen kam. Dies beruhigte sie und spornte sie an. Reisen in alternative Realitäten, deren Zeitpunkt X vor dem 14. März 1999 lag, blieben tabu. Der Professor wollte erst die
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