Alles bleibt anders (German Edition)
sollte, bevor am morgigen Tag die gemeinsamen Sitzungen und Diskussionen begannen. Der Tagesablauf für den Samstag sah ein eher allgemein gehaltenes Programm vor. Vorkenntnisse der einzelnen Teilnehmer sollten ausgelotet, Bekanntschaften geschlossen und Hemmschwellen abgebaut werden. Der Sonntag stand dann für alle zur freien Verfügung, allerdings mit gemeinsamem Abendessen; am Montag standen dann einleitende Vorträge der beiden Professoren an und am Dienstag sollte der eigentliche Erfahrungsaustausch beginnen. Dem Professor war klar, dass dieser nur in eine Richtung fließen würde.
Das Universitätsgelände im Bezirk Charlottenburg glich architektonisch beim ersten Hinsehen dem Campus in Oxford: geradlinig, zweckdienlich, nüchtern. Obwohl sie alle – abgesehen von Professor Gothaer – aus Germania stammten, auf dem Hochschulcampus war noch niemand von den vier Studenten gewesen.
Als das Taxi zum Stehen kam, fiel Frank als erster Unterschied die Inschrift auf dem Rundbogen über dem Eingangsportal auf: AUDACES FORTUNA JUVAT. »Dem Tapferen hilft das Glück!«, sprach Karen die Übersetzung laut aus.
Als sie mit ihren Taschen und Koffern dann vor den vielen Hinweisschildern und Wegweisern standen, entpuppte sich das Universitätsgelände doch als weitaus größer, als jenes im nun fernen Oxford, das selbst schon die Strukturen einer Kleinstadt aufgewiesen hatte. Doch Professor Gothaer, selbst nicht zum ersten Mal hier, schritt zielstrebig in eine Richtung und die anderen folgten ihm.
Nachdem sie ihre Zimmer im Gästehaus der Universität bezogen hatten, machten sie sich auf den Weg in die Kleine Aula.
In lockerer Atmosphäre empfing sie dort ein stattlicher, sportlich wirkender Mann, Ende der Fünfzig, dessen noch volles Haar ebenso silbergrau war wie sein buschiger Oberlippenbart. Nach dem Hitlergruß stellte er sich als Professor Doktor Lothar Hemmbacher vor und begrüßte sie alle aufs Herzlichste hier auf dem Campus. Etwa zwanzig Studenten waren anwesend, zwei Männer in SS-Uniformen und drei weitere Männer, die Frank als der Gestapo zugehörig einschätzte. Hemmbacher selbst und mehrere seiner Studenten trugen ein metallenes Parteiabzeichen am Revers. Weiterhin fiel Frank auf, dass Karen die einzige Frau hier war.
An den Seitenwänden der Kleinen Aula standen Tische aufgereiht, auf denen kalte Platten und alkoholfreie Getränke angeboten wurden.
Die zwischen noch Unbekannten üblichen Floskeln machten die Runde: ob sie eine angenehme Reise hatten, wie denn das Wetter in Oxford sei und wie denn die Lebenssituation in Angelsachsen wäre, wollten die Gastgeber wissen. Sie fragten nach der dortigen Landschaft, der politischen Stimmung und der polizeilichen Sicherheit.
Die Männer von SS und Gestapo hielten sich eher im Hintergrund, ließen die anderen reden und versuchten, sich unbeteiligt zu geben: Verhaltensmuster, die Frank nicht neu waren.
Die Inhalte der Gespräche waren belanglos, dennoch verglich Frank es mit den Geplänkeln, die sich seine Einheit damals mit den Aufständischen auf den Anhöhen der Krim geliefert hatte. Man wollte etwas über sein Gegenüber in Erfahrung bringen, dessen Stellung ausloten. Hier wie dort wollte man wissen, welche Stärken und welche Schwächen der andere hatte, dabei sich selbst keine Blöße geben. Auf der Krim ging es um militärische und strategische Schwächen, hier um menschliche. Möglichst wenig Privates von sich geben, nichts von Familie oder Freunden erzählen, Frank praktizierte dies seit Jahren. Persönliches konnte leicht zum Bumerang werden, im Falle, dass man in Ungnade fiel. Und Frank war sich im Klaren, wie nahe sie alle am Abgrund standen.
Der Empfang zu ihren Ehren löste sich gegen zehn Uhr auf und Frank und seine Mitreisenden legten sich zeitig schlafen. Nach einem Frühstück in der beinahe menschenleeren Mensa, begann der Samstag mit denselben Leuten und den gleichen Geplänkeln, mit denen der Freitag geendet hatte.
Inhaltlich standen Vorträge zur modernen, zeitgenössischen Physik auf der Tagesordnung des Vormittags. Studenten der Gastgeber-Universität referierten über die Theorie der nichtlinearen Systeme, über Themengebiete aus der Quantenphysik und aus der Weltraumforschung. Neues war für Frank nicht dabei, die Vorträge sollten auch lediglich als Einstimmung für die gemeinsamen nächsten Tage dienen. Am Nachmittag dann schlossen sich Diskussionen an, neueste Erkenntnisse und Forschungsresultate wurden ausgetauscht. Es wurde spekuliert,
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