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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Mystik, in denen zu den treibenden Rhythmen das Individuum seine Persönlichkeit aufgibt, zur Masse wird und unbewusst zu seinem Stamm und zur Magie der Urzeit zurückkehrt. Eine solche zeitgenössische Art der Ekstase ist fraglos vergnüglicher als jene, die Teresa von Ávila oder Johannes vom Kreuz auf dem Weg der Askese, des Gebets und des Glaubens erlangten. Bei Festen und Konzerten in der Menge gehen die jungen Leute heute zur Kommunion, beichten, finden Erlösung, verwirklichen sich und genießen auf diese intensive, elementare Weise, was es heißt, sich selbst zu vergessen.
    Eine solche Vermassung ist – neben der Frivolität – ein weiteres Merkmal unserer Zeit. So wird auch dem Sport eine Bedeutung zugeschrieben, wie er sie sonst nur im alten Griechenland hatte. Für Platon, Sokrates, Aristoteles und andere Besucher der Akademia ging die Pflege des Körpers jedoch mit der Pflege des Geisteseinher, denn beide bereicherten einander. Ganz anders heute, wo der Sport im Allgemeinen auf Kosten und anstelle geistiger Tätigkeit ausgeübt wird. Dabei ragt keine Sportart so heraus wie der Fußball, ein Massenphänomen, das genau wie die genannten Musikveranstaltungen mehr Menschen vereint als alles andere, ob politische Versammlung, religiöse Prozession oder Bürgerinitiative. Ein Fußballmatch kann für die Liebhaber, und ich bin selber einer, natürlich ein tolles Schauspiel sein, ein Fest des mannschaftlichen und individuellen Könnens, das den Zuschauer zu Recht begeistert. Aber wie die Zirkusspiele im alten Rom dienen die großen Spiele heutzutage vor allem als Vorwand und Möglichkeit für den Einzelnen, das Irrationale auszuleben, zu regredieren und Teil des Stamms zu werden, der wilden Meute, worin er, geschützt in der kuscheligen Anonymität der Ränge, seinen aggressiven Trieben freien Lauf lassen und den Anderen ablehnen, den Gegner niederringen und symbolisch (manchmal auch real) vernichten kann. Die berüchtigten barras bravas mancher Vereine und die Schäden, die sie mit ihren mörderischen Prügeleien, brennenden Tribünen und Dutzenden von Opfern anrichten, zeigen deutlich, dass es oftmals nicht nur der Sport ist, der so viele Fans anzieht – fast ausschließlich männlichen Geschlechts, auch wenn immer mehr Frauen in die Stadien kommen –, sondern ein Ritual, das im Einzelnen an Instinkte und Triebe rührt, die ihn dazu drängen, seinen zivilisierten Stand aufzugeben und sich eine Spielzeit lang als Teil der primitiven Horde zu verhalten.
    Paradoxerweise wird das Phänomen der Vermassung begleitet von einer Zunahme des allgemeinen Drogenkonsums. Rauschmittel haben im Westen natürlich eine lange Tradition, aber bis vor relativ kurzer Zeit war ihr Gebrauch fast ausschließlich eine Gewohnheit der Eliten und kleinerer Randgruppen wie der Bohemekreise, in denen, im neunzehnten Jahrhundert, die künstlichen Blumen so respektable Verehrer fanden wie Baudelaire oder De Quincey.
    Der Drogenkonsum, wie wir ihn heute allenthalben antreffen, ist damit nicht zu vergleichen, er entspricht nicht der Erkundung neuer Gefühle oder Sichtweisen zu künstlerischen oder wissenschaftlichen Zwecken. Auch ist er kein Ausdruck des Aufbegehrens gegen etablierte Normen, kein Zeichen des Nonkonformismus auf der Suche nach alternativen Lebensformen. Der Massenkonsum von Marihuana, Kokain oder Ecstasy, von Heroin, Crack und sonstigen Drogen findet in einem kulturellen Milieu statt, das Menschen in den Wunsch nach schnellem und leichtem Vergnügen treibt, einem Vergnügen, das sie immunisiert gegen Sorgen und Verantwortung; denn nicht die Begegnung mit sich selbst ist das Ziel, nicht das Nachdenken und die Innenschau, hochgeistige Tätigkeiten, die der launischen und verspaßten Kultur langweilig erscheinen. Der Wunsch, der beängstigenden Leere zu entfliehen, die das Gefühl hervorruft, frei zu sein und entscheiden zu müssen, was man mit sich und der Welt ringsum tun soll – zumal wenn sich die Welt dramatischen Herausforderungen gegenübersieht –, dieser Wunsch ist es, der das Bedürfnis nach Zerstreuung schürt, ist die treibende Kraft der Zivilisation, in der wir leben. Wie früher die Religionen und die Hochkultur dienen heute für Millionen von Menschen die Drogen dazu, sie inihren großen Zweifeln und Fragen nach der menschlichen Natur, nach Leben, Tod und Jenseits, Sinn oder Unsinn des Daseins zu besänftigen. Mit ihrer künstlich hervorgerufenen Erregung, Euphorie oder Ruhe schenken sie für einen Moment das

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