Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
verarmen. Heute erleben wir das Primat der Bilder über die Ideen, die Bücher werden zunehmend von den audiovisuellen Medien verdrängt, und wenn sich die pessimistischen Vorhersagen George Steiners bewahrheiten, landen sie in nicht allzu ferner Zukunft in den Katakomben. (Liebhaber der anachronistischen Buchkultur wie ich sollten es nicht beklagen, denn wenn es so kommt, hat diese Marginalisierung vielleicht einen reinigenden Effekt und räumt mit der Konfektionsware Bestsellerliteratur auf.)
Das Kino, das natürlich immer schon Unterhaltungskunst war, orientiert am großen Publikum, hat zugleich, mal am Rande, mal im Herzen der Filmindustrie, große Talente gekannt, die in der Lage waren, trotz der schwierigen Bedingungen, unter denen sie aufgrund strammer Budgets und der Abhängigkeit von den Produzenten immer arbeiten mussten, Werke von großer Tiefe und Originalität zu schaffen, Werke, die uns mit ihrem unverwechselbaren persönlichen Stil noch heutefaszinieren. Doch unter dem unnachgiebigen Druck der herrschenden Kultur, die Witz über Intelligenz stellt, Bilder über Ideen, Humor über Ernsthaftigkeit, das Banale über das Tiefe und das Frivole über das Seriöse, bringt unsere Zeit keine Meister mehr hervor wie Ingmar Bergman, Luchino Visconti oder Luis Buñuel. Unterdessen wird ein Woody Allen zur Ausnahmeerscheinung gekrönt, Woody Allen, der verglichen mit einem David Lean oder einem Orson Welles dasselbe ist wie in der Malerei Andy Warhol gegenüber Gauguin oder Van Gogh und im Theater ein Dario Fo im Vergleich zu Tschechow oder Ibsen.
Es überrascht auch nicht, wenn heute die filmischen Spezialeffekte einen solchen Rang einnehmen, dass die Thematik, die Regisseure, das Drehbuch und selbst die Schauspieler in den Hintergrund treten. Hier ließe sich anführen, dies sei zu einem großen Teil der außerordentlichen technischen Entwicklung der letzten Jahre geschuldet, die es nun erlaubt, auf dem Gebiet der visuellen Fantasie und Simulation wahre Wunder zu vollbringen. Zum Teil, keine Frage. Andererseits aber, und vielleicht ist das entscheidend, ist der Grund eine Kultur, die nach dem geringsten geistigen Aufwand strebt: der Zuschauer soll sich am besten keine Gedanken machen, vielmehr passiv dem überlassen, was Marshall McLuhan, dieser scharfsinnige Prophet, als Eintauchen in ein heißes Bad bezeichnete; soll sich angesichts des außergewöhnlichen und manchmal brillanten Bombardements mit Bildern den von ebendiesen Bildern ausgelösten Emotionen und Gefühlen hingeben, auch wenn sie, aufgrund ihrer flüchtigen Natur, das Empfinden und den Verstand des Zuschauers nur abstumpfen.
Die bildende Kunst ging dabei allen anderen kulturellen Ausdrucksformen voran und schuf die Grundlagen für die Kultur des Spektakels, denn sie zeigte, dass die Kunst Spielerei und Farce sein kann und sonst nichts. Seit Marcel Duchamp, ohne Zweifel ein Genie, die künstlerischen Maßstäbe des Westens revolutionierte, indem er bestimmte, dass auch ein Pissoir ein Kunstwerk ist, wenn der Künstler es so will, war in der Malerei und der Bildhauerei alles möglich, was so weit geht, dass ein steinreicher Sammler fast zehn Millionen Euro für einen in Formalin eingelegten Hai in einem Glaskasten zahlt und der Urheber dieses Scherzes, Damien Hirst, heute nicht als ein phänomenaler Verkäufer seiner Schwindelware verehrt wird, sondern als großer Künstler. Vielleicht ist er es tatsächlich, aber das spricht weniger für ihn als gegen unsere Zeit. Eine Zeit, in der die Chuzpe und die Angeberei, die provokante und sinnfreie Geste manchmal ausreichen – unter tätiger Mithilfe der Mafias, die den Kunstmarkt kontrollieren, und der Komplizen oder Schwätzer unter den Kritikern –, um falschen Ruhm zu bekrönen, denn so werden Illusionisten, die ihre Dürftigkeit und Leere hinter glattem Betrug und vermeintlicher Frechheit verbergen, in den Rang von Künstlern erhoben. Ich sage vermeintlicher, denn Duchamps Urinal besaß zumindest die Kraft der Provokation. Heutzutage, da von Künstlern nicht Talent oder Können erwartet wird, sondern Pose und Skandal, sind ihre Gewagtheiten nicht mehr als die Masken eines neuen Konformismus. Was einmal revolutionär war, ist Mode geworden, Zeitvertreib, Spaß, eine feine Säure, die das künstlerische Tun zersetzt, und was bleibt, ist Kasperei. In der bildenden Kunst hat dieFrivolisierung erschreckende Ausmaße angenommen. Da selbst der kleinste Konsens über ästhetische Werte abhandengekommen
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