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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Einige von ihnen haben selber kandidiert und sind bis in die höchsten Ämter gelangt wie Ronald Reagan als Präsident der Vereinigten Staaten und Arnold Schwarzenegger als Gouverneur von Kalifornien. Selbstverständlich will ich nicht ausschließen, dass Filmschauspieler oder Rocksänger, Rapper oder Fußballer für das Geistesleben bedenkenswerte Vorschläge machen können; sehr wohl aber bestreite ich,dass die politische Geltung, die sie heute genießen, etwas zu tun hat mit ihrem Scharfsinn oder ihrer Intelligenz. Sie verdankt sich ausschließlich ihrer Medienpräsenz und ihrem Showtalent.
    Der Hintergrund ist hier das Verschwinden einer Gestalt, die seit Jahrhunderten und bis vor relativ wenigen Jahren noch eine bedeutende gesellschaftliche Rolle spielte: die Gestalt des Intellektuellen. Die Bezeichnung »Intellektueller«, heißt es, sei erst im neunzehnten Jahrhundert aufgekommen, im Frankreich der Dreyfus-Affäre und der Polemiken, die Émile Zola mit seinem berühmten »J’accuse« entfachte, seinem offenen Brief zur Verteidigung jenes jüdischen Hauptmanns, den antisemitische Offiziere des Generalstabs der französischen Armee fälschlicherweise des Landesverrats bezichtigten. Doch auch wenn der Begriff »Intellektueller« erst mit dieser Affäre etabliert worden sein mag: Die Teilnahme denkender und schöpferischer Geister am öffentlichen Leben, an den politischen, philosophischen und religiösen Debatten reicht bis zu den Anfängen des Abendlandes zurück. Es gab sie im Griechenland Platons und im Rom Ciceros, in der Renaissance Montaignes und Machiavellis, im Zeitalter der Aufklärung Voltaires und Diderots, in der Romantik Lamartines und Victor Hugos und in allen Zeiten danach. Neben ihrer forschenden, akademischen oder schöpfenden Tätigkeit nahmen zahlreiche herausragende Schriftsteller und Denker mit ihren Büchern, Erklärungen und Stellungnahmen Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen, und so war es auch noch, als ich jung war, in England mit Bertrand Russell, in Frankreich mit Sartre und Camus, in Italien mit Moravia und Vittorini, in Deutschland mit GünterGrass und Enzensberger. Oder denken wir nur daran, wie in Spanien José Ortega y Gasset und Miguel de Unamuno öffentlich das Wort ergriffen. Heute hat sich der Intellektuelle aus den Debatten verzogen, zumindest aus den wichtigen. Zwar unterzeichnen einige weiterhin Aufrufe, schicken Briefe an die Zeitungen und verstricken sich in Polemiken, aber nichts davon wirkt sich ernsthaft auf die Geschicke der Gesellschaft aus, deren ökonomische, institutionelle und selbst kulturelle Angelegenheiten von den politischen und administrativen Kräften und den Lobbygruppen entschieden werden, unter denen die Intellektuellen durch Abwesenheit glänzen. Im Bewusstsein ihrer unerquicklichen Situation, auf die ihre Gesellschaft sie reduziert, haben sich die meisten dafür entschieden, Zurückhaltung zu üben oder der öffentlichen Debatte ganz fernzubleiben. Verbannt in die Nische ihres Fachgebiets oder sonstigen Tuns, kehren sie dem, was man vor einem halben Jahrhundert das bürgerliche oder moralische Engagement nannte, den Rücken. Es gibt Ausnahmen, aber unter denen, die zählen – weil sie in die Medien kommen –, sind es in aller Regel die Selbstvermarkter und Exhibitionisten, nicht die Streiter für ein Prinzip oder einen Wert. In der Kultur des Spektakels interessiert der Intellektuelle nur, wenn er das Spiel des Tages mitspielt und den Narren gibt.
    Was hat nun zum Ansehensverlust und Verschwinden des Intellektuellen geführt? Ein Grund ist gewiss, dass sich gleich mehrere Generationen von Intellektuellen mit ihren Sympathien für die Totalitarismen, ob Nationalsozialismus, Sowjetkommunismus oder Maoismus, in Verruf gebracht haben, mit ihrem Schweigenund ihrer Blindheit angesichts der Schrecken des Holocausts, der Gulags und der blutigen Kulturrevolution. Es ist wahrlich bedrückend und kaum zu begreifen, in wie vielen Fällen ausgerechnet die vermeintlich hervorragendsten Köpfe ihrer Zeit gemeinsame Sache machten mit Regimen, die Völker mordeten, Menschenrechte mit Füßen traten und alle Freiheiten abschafften. Der wahre Grund für den Verlust jedes gesellschaftlichen Interesses an den Intellektuellen ist jedoch eine direkte Folge des geringen Ansehens, den das Denken in der Kultur des Spektakels genießt.
    Ein weiteres charakteristisches Merkmal ist nämlich, dass die Ideen, treibende Kraft des kulturellen Lebens, immer deutlicher

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