Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Gefühl, in Sicherheit zu sein, glücklich und erlöst. Es ist dies eine Fiktion, keine schöne allerdings, sondern eine ungute, denn sie isoliert den Einzelnen und befreit ihn nur dem Anschein nach von Problemen, Verantwortung und Ängsten. Am Ende packt ihn der Jammer wieder, verlangt nach immer höheren Dosen, nach Betäubung und Überreizung, was seine geistige Leere noch vertieft.
In der Kultur des Spektakels hat der Laizismus, so scheint es zumindest, an Boden gewonnen. Und unter den noch Gläubigen hat die Zahl derer zugenommen, die es nur von Zeit zu Zeit sind, auf oberflächliche Weise und gleichsam als soziale Praxis, ein reines Lippenbekenntnis, während sie den größten Teil ihres Lebens auf Religion gänzlich verzichten. Dank der Säkularisierung genießen wir nun sehr viel größere Freiheiten als zu der Zeit, da die kirchlichen Dogmen und Verbote sie beschnitten und erstickten. Doch wäre es irrig zu glauben, dass die Religion verschwindet, nur weil es heute in der westlichen Welt prozentual weniger Katholiken und Protestanten gibt als früher. Die Statistiken erzählen da nicht die ganze Geschichte. Denn während viele Gläubige den traditionellen Kirchen den Rücken kehrten, breiteten sich Sekten, Kulte und alle möglichen alternativen Religionspraktiken aus, vom östlichen Spiritualismus in seinen vielfältigen Ausformungen – Buddhismus, Zen-Buddhismus, Tantrismus, Yoga – bis hin zu den evangelikalen Kirchen, von denen es nur sowimmelt und die sich in den Randvierteln der Städte teilen und wiederteilen, dazu solch pittoreske Surrogate wie der Vierte Weg, die Rosenkreuzer, die Vereinigungskirche – die Moonies –, Scientology (in Hollywood sehr beliebt) und noch diesseitigere oder exotischere Kirchen. (Ich zitiere aus dem Brief eines kolumbianischen Freundes: »Besonders aufgefallen ist mir eine bestimmte Form des Neoindigenismus, den die Mittel- und Oberschicht in Bogotá, vielleicht auch in anderen Ländern, als neue Mode praktiziert. Statt einen Pfarrer oder Psychoanalytiker haben die jungen Leute jetzt einen Schamanen und trinken alle zwei Wochen Yagé, bei kollektiven Zeremonien, die einen therapeutischen und spirituellen Zweck verfolgen. Die Teilnehmer sind natürlich ›Atheisten‹: gebildete Leute, Künstler, früher einmal Bohemiens …«)
Der Grund für diese Ausbreitung von Kirchen und Sekten ist die Tatsache, dass nur die wenigsten Menschen auf Religion ganz verzichten können. Die große Mehrheit braucht sie, denn nur die Gewissheit, die der religiöse Glaube in Seelendingen und allem Transzendenten verspricht, befreit sie von Unruhe und Angst, in die sie die Vorstellung vom Verlöschen, vom völligen Vergehen stürzt. Tatsächlich ist die Art, wie die meisten Menschen eine Ethik verstehen und leben, ja auch vorgegeben von einer Religion. Allenfalls kleine Minderheiten emanzipieren sich von ihr und füllen die Leere, die sie hinterlässt, mit »Kultur«: mit Philosophie, Wissenschaft, Kunst. Doch nur die Hochkultur kann eine solche Funktion wirklich erfüllen, eine Kultur, die die Probleme angeht und nicht verhehlt, die versucht, auf die großen Rätsel, Fragen und Konflikte, von denen diemenschliche Existenz umfangen ist, ernsthafte Antworten zu geben und keine bloß spielerischen. Die Kultur des Seichten und des Flitters, des Klamauks und der Pose reicht nicht aus, um die Gewissheiten und Legenden, Mysterien und Rituale der Religionen zu ersetzen. In unserer heutigen Gesellschaft verschaffen die Betäubungsmittel und der Alkohol jene zeitweilige Ruhe des Geistes, jene Sicherheiten und Erleichterungen, die den Menschen früher durch das Gebet, die Beichte, die Kommunion und die Predigt zuteilwurden.
Es ist auch kein Zufall, dass die Politiker, die sich früher im Wahlkampf gerne Arm in Arm mit bedeutenden Wissenschaftlern und Dramatikern fotografieren ließen, heute die Nähe und den Beistand von Rocksängern und Filmschauspielern suchen, von Fußballstars und anderen Größen des Sports. Die sind an die Stelle der Intellektuellen getreten und dirigieren nun das politische Bewusstsein der mittleren und unteren Schichten, stehen als Erstunterzeichner auf den Appellen, verlesen sie von den Tribünen herab und verkünden im Fernsehen, was gut ist im Lande und was schlecht. In der Kultur des Spektakels ist der Komiker der König. Im Übrigen begegnen uns nicht nur in diesem Randbezirk des politischen Lebens namens öffentliche Meinung allenthalben Schauspieler und Sänger.
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