Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Zeitschriften bringen weiterhin Besprechungen von Büchern, Ausstellungen und Konzerten, aber liest jemand diese einsamen Paladine, die noch versuchen, in dem bunten Dschungel, aus dem das kulturelle Angebot heutzutage besteht, eine hierarchische Ordnung zu schaffen? Die Kritik jedenfalls, die zur Zeit unserer Groß- und Urgroßeltern eine zentrale Rolle spielte, weil sie den Menschen bei der schwierigen Aufgabe, zu beurteilen, was sie hörten, sahen oder lasen, mit gutem Rat zur Seite stand, diese Kritik ist heute eine aussterbende Art, von niemandem beachtet, es sei denn, sie kommt selbst als Amüsement und Spektakel daher.
Literatur light, Kino light, Kunst light, sie geben dem Leser oder Betrachter das behagliche Gefühl, er sei gebildet, revolutionär, modern und marschiere an der Spitze des Trends, das alles mit einem Minimum an intellektuellem Aufwand. Und so zementiert diese Kultur, die sich gerne fortschrittlich und tabubrecherisch gibt, in ihren schlimmsten Ausprägungen, dem Wohlgefallen und der Selbstzufriedenheit, in Wahrheit bloß den Konformismus.
Heutzutage ist es normal und fast schon Pflicht, dass Kochen und Mode einen großen Teil des Kulturprogramms einnehmen, und so genießen »Meisterköche« und »Modemacher« nun die Geltung, die früher Wissenschaftlern, Komponisten oder Philosophen zukam. Herdplatten und Laufstege vermischen sich im kulturellen Koordinatensystem unserer Zeit mit Büchern, Konzerten, Labors und Opern, und Fernsehstars und Fußballer üben auf die Gewohnheiten, Geschmäcker und Moden einen Einfluss aus, wie ihn früher die Professoren, Denker und (noch früher) Theologen besaßen. Vor einem halben Jahrhundert war es in den USA wahrscheinlich ein Edmund Wilson, der mit seinen Artikeln im New Yorker oder in der New Republic über Erfolg und Misserfolg eines Gedichtbands, eines Romans oder Essays entschied. Heute sind es die Shows der Oprah Winfrey. Ich sage nicht, dass das schlecht wäre. Ich sage nur, dass es so ist.
Die Leere, die die schwindende Kritik hinterlässt, hatlängst die Werbung ausgefüllt, die heute nicht nur ein wesentlicher Teil des kulturellen Lebens ist, sondern ihr Leitstrahl. Sie übt einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung des Geschmacks, des Empfindens, der Fantasie und der Gewohnheiten aus. Die Funktion, die hier früher die philosophischen Systeme, die religiösen Anschauungen, die Ideologien und Doktrinen hatten oder jene klugen Köpfe, die man in Frankreich als die Mandarine einer Epoche kannte, erfüllen heute die anonymen »Kreativen« in den Werbeagenturen. In gewisser Weise war dies folgerichtig, und zwar von dem Moment an, da literarische und künstlerische Werke zu Produkten wurden, deren Sein oder Nichtsein man den Schwankungen des Marktes unterwarf, in jener tragischen Zeit, als man den Preis eines Kunstwerks mit seinem Wert zu verwechseln begann. Wenn eine Kultur die Ausübung des Denkens in die Rumpelkammer verbannt und die Gedanken durch Bilder ersetzt, sind es die Marketingtechniken, die über Wohl und Wehe eines Produkts entscheiden, die konditionierten Reflexen eines Publikums, das über keine geistigen und intuitiven Schutzmechanismen mehr verfügt, um die Konterbande oder Erpressung zu erkennen, der es zum Opfer fällt. Auf diesem Wege erreichen die albernen Fummel, die ein John Galliano in Paris über den Laufsteg schickte (bevor seine antisemitischen Ausfälle bekannt wurden), oder die Experimente der Nouvelle Cuisine den Status von Ehrenmitgliedern der Hochkultur.
Dieser Umstand hat auch die Musikbegeisterung auf eine Weise befeuert, dass sie zu einem weltweiten Identitätszeichen für die jüngeren Generationen wurde. Die angesagten Bands und Sänger versammeln bei ihren Konzerten Menschenmengen, die jeden Rahmen sprengen; wie die dionysischen Feste, die im Griechenland der Antike das Irrationale feierten, sind es kollektive Zeremonien der Hemmungslosigkeit und der Katharsis, des Kultes der Instinkte, der Leidenschaft und der Unvernunft. Das Gleiche gilt natürlich auch für die riesigen Raves, bei denen im Dunkeln getanzt, wummernde Trancemusik gehört und dank Ecstasy geflogen wird. Man muss diese Veranstaltungen nicht zwangsläufig mit den religiösen Volksfesten von früher vergleichen; aber hier findet sich, säkularisiert, jener religiöse Geist wieder, der, im Einklang mit den Tendenzen der Epoche, die Liturgie und die Katechismen der traditionellen Religionen ersetzt hat durch Ausdrucksformen einer musikalischen
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