Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
herrschenden Klassen zu beschneiden, im Keim zu ersticken. Das ist vielleicht eine der strittigsten Thesen der Postmoderne. Denn die lebendigste und schöpferischste Tradition der westlichen Kultur ist alles andere als konformistisch gewesen, ganz im Gegenteil, sie war immer ein Infragestellen alles Bestehenden, eine beharrliche Kritik des Etablierten, und von Sokrates bis zu Marx, von Platon bis zu Freud, von Shakespeare über Dostojewski, Kantund Nietzsche bis zu Kafka und Joyce hat sie im Laufe der Geschichte künstlerische Welten und Gedankengebäude hervorgebracht, die allen Mächten auf ihren Thronen radikal entgegenstanden. Wenn wir nur die Sprache wären, die die Macht uns aufzwingt, hätte es Freiheit niemals gegeben, noch eine historische Entwicklung oder künstlerische Originalität.
Natürlich hat es an kritischen Stimmen zu den intellektuellen Exzessen der Postmodernen nicht gefehlt. So erlebte etwa ihr Bestreben, sich gegen Kritik zu immunisieren und unangreifbar zu machen, einen herben Rückschlag, als zwei Wissenschaftler reinsten Wassers, Alan Sokal und Jean Bricmont, 1997 Impostures intellectuelles 10 veröffentlichten, eine überzeugende Demonstration des unverantwortlichen, ungenauen und oft auf zynische Weise betrügerischen Gebrauchs der Wissenschaften, anzutreffen in den Schriften so renommierter Denker wie Jacques Lacan, Julia Kristeva, Luce Irigaray, Bruno Latour, Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Félix Guattari und Paul Virilio. Erinnern wir uns, dass Jahre zuvor – 1957 – Jean-François Revel in seinem ersten Buch, Pourquoi des philosophes? , mit scharfen Worten die Verwendung eines abstrusen und trügerisch wissenschaftlichen Stils anprangerte, mit dem die einflussreichsten Denker seiner Zeit die Bedeutungslosigkeit ihrer Theorien oder ihre eigene Unwissenheit zu kaschieren suchten.
Eine weitere unnachgiebige Kritikerin der Theorien und Thesen der postmodernen Mode war GertrudeHimmelfarb. In einer polemischen Aufsatzsammlung mit dem Titel On Looking Into the Abyss stürmte sie 1994 gegen diese an, vor allem gegen den (Post)Strukturalismus von Michel Foucault und den Dekonstruktivismus von Jaques Derrida und Paul de Man, Denkströmungen, die ihr hohl erschienen verglichen mit den traditionellen Schulen der Literatur- und Geschichtswissenschaften.
Ihr Buch ist auch eine Hommage an Lionel Trilling, den Autor von The Liberal Imagination (1950) und vielen weiteren Aufsätzen zur Kultur, die großen Einfluss auf das geistige und akademische Leben der Nachkriegszeit in den USA und in Europa hatten, einen Literaturkritiker, an den sich heute nur wenige erinnern und den fast niemand mehr liest. Trilling war kein Liberaler in ökonomischen Dingen (da hegte er eher sozialdemokratische Ansichten), sehr wohl aber, was das Politische betraf, denn hartnäckig stritt er für die Toleranz als höchste Tugend und das Gesetz als Instrument der Gerechtigkeit, und vor allem die Kultur. Er glaubte an die Ideen als treibende Kraft des Fortschritts und war überzeugt, dass die großen literarischen Werke das Leben bereichern, die Menschen besser machen und der Zivilisation ihren Halt geben.
Für einen Postmodernen ist ein solcher Glaube Ausweis engelhaftester Treuherzigkeit oder sträflichster Dummheit, so dass niemand sich auch nur die Mühe macht, ihn zu widerlegen. Himmelfarb zeigt, auch wenn seine Generation und die eines Derrida oder Foucault nur wenige Jahre voneinander trennen, dass ein wahrer Abgrund klafft zwischen Lionel Trilling, für den die Geschichte der Menschheit eine einzige ist, die Erkenntnis eine allumfassende, der Fortschritt ein möglicher unddie Literatur ein Wirken der Vorstellungskraft mit Wurzeln in der Geschichte und moralischer Strahlkraft, und denen, die die Begriffe von Wahrheit und Wert relativieren, bis sie zu Fiktionen werden, zum Axiom erheben, dass alle Kulturen gleichwertig sind, die Literatur von der Wirklichkeit scheiden und sie in eine autonome Welt von Texten verbannen, die, ohne je mit der gelebten Erfahrung in Verbindung zu treten, nur auf andere Texte verweisen.
Die Abwertung Foucaults, wie Himmelfarb sie betreibt, teile ich nicht. Bei allen Sophistereien und Übertreibungen, die man ihm vorwerfen mag, hat Foucault auf entscheidende Weise dazu beigetragen, bestimmten Randerfahrungen (des Wahns, der Sexualität, der gesellschaftlichen Unterdrückung) ein Heimatrecht in unserer Kultur zu verschaffen. Doch dass die Dekonstruktion, wie Himmelfarb aufzeigt, für die
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