Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
Vom Netzwerk:
der übrigen Welt gibt es seither in der Politik und in der Kultur praktisch keine Persönlichkeiten mehr, denen dieser zugleich moralische und intellektuelle Status einer »klassischen Autorität« zukommt und für die im Volk einmal die Lehrer oder Lehrmeister standen, mit Bezeichnungen wie magister , maestro , maître , die so gut klangen, weil sie sich mit Wissen und Idealismus verbanden. Nirgendwo ist dies so katastrophal für die Kultur gewesen wie in der Bildung. Aller Glaubwürdigkeit und Autorität beraubt, hat der Lehrer – aus der progressiven Warte oftmals nur noch ein Vertreter der repressiven Macht, das heißt ein Feind, dem man zur Erlangung der Freiheit und der menschlichen Würde Widerstand leisten, den man fertigmachen muss – nicht nur das Vertrauen und die Achtung verloren, ohne die er seine Funktion als Erzieher – als Vermittler von Wissen wie von Werten – gegenüber den Schülern unmöglich ausüben kann, sondern auch den Respekt ihrer Eltern und jener revolutionären Philosophen, die nach Art des Verfassers von Überwachen und Strafen im Lehrer eines dieser finsteren Instrumente sahen, deren sich – genau wie die Gefängniswärter und die Psychiater in den Heilanstalten – das Establishment bedient, um dem kritischen Geist und der gesunden Aufsässigkeit von Kindern und Jugendlichen die Zügel anzulegen.
    Tatsächlich bildeten sich viele Lehrer ein, dass an dieser Verteufelung ihrer selbst etwas dran sei, und trugen, indem sie eimerweise Öl ins Feuer schütteten, dazu bei, den Schaden noch zu vergrößern. So machten sie sich einige der absurdesten ideologischen Postulate des Mai 68 zu eigen und hielten es für abwegig, schlechte Schüler durchfallen und eine Klasse wiederholen zu lassen, überhaupt Noten zu geben oder die akademische Leistung von Studenten in einer Rangordnung zu bewerten, da man mit solchen Unterscheidungen die unheilvolle Vorstellung von Hierarchie, Egoismus und Individualismus, die Ungleichheit und den Rassismus fortschreibe. Zwar stimmt es, dass diese Extreme am Ende nicht den gesamten Bildungsbereich berührten, aber eine der perversen Folgen der siegreichen Ideen – der ätzenden Kritik wie der Träumereien – des Mai 68 war es, dass sich ebendrum, aus den Schulklassen heraus, die gesellschaftlichen Klassen noch weiter voneinander entfernten.
    Die postmoderne Zivilisation hat unsere Kultur moralisch und politisch entwaffnet, was zu einem guten Teil erklärt, dass einige der »Gespenster«, die wir nach dem Zweiten Weltkrieg für immer verbannt glaubten – der Nationalismus in seiner extremsten Form und der Rassismus –, ihr Haupt wieder erhoben und im Herzen des Westens ihr Unwesen treiben, womit sie ein weiteres Mal seine demokratischen Werte und Prinzipien bedrohen.
    Das öffentliche Bildungswesen war eine der großen Errungenschaften des demokratischen, republikanischen und laizistischen Frankreich. In seinen anspruchsvollen Schulen genossen Scharen von Schülern eine Chancengleichheit, die in jeder Generation aufs Neue die familiären und schichtspezifischen Asymmetrien und Privilegien korrigierte und den Kindern und Jugendlichen der am meisten benachteiligten Gruppen Möglichkeiten des beruflichen Erfolgs und der politischen Partizipation eröffnete. Die staatliche Schule war ein mächtiges Instrument der sozialen Mobilität.
    Das Chaos und die Verschlechterungen im Bildungssystem, ob in Frankreich oder im Rest der Welt, haben den Privatschulen, zu denen nur eine kleine begüterte Minderheit Zugang hat, eine entscheidende Rolle zugewiesen als Schmiede der fachlichen, politischen und kulturellen Führungskräfte. Die Verheerungen der vermeintlich libertären Revolution haben sie weniger hart getroffen, aber bekanntlich weiß man nie, wem es am Ende nutzt: Im Glauben, eine wirklich freie Welt zu errichten, ohne Repression noch Entfremdung oder Autoritarismus, taten Philosophen wie Michel Foucault und seine wohlmeinenden Schüler mit der von ihnen beförderten großen Bildungsrevolution jedenfalls alles, damit die Armen weiter arm blieben und die Reichen weiter reich. Und wie eh und je schwangen die Herren der Macht ihre Peitsche.
    Nicht von ungefähr erwähne ich Michel Foucault als ein paradoxes Beispiel. Seine Kritik war ernst gemeint, und sein libertäres Ideal ist unbestreitbar. Seine Vorbehalte gegen die westliche Kultur – die trotz aller Begrenztheiten und Verirrungen wie keine andere in der Geschichte die Freiheit, die Demokratie und die

Weitere Kostenlose Bücher