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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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durch die Nationalsozialisten zu leugnen.
    Lionel Trillings Essay zur Lehre von Literatur habe ich mehrmals wiedergelesen, vor allem als es mir beschieden war, selber Vorlesungen zu halten. Es hat, wohl wahr, etwas Trügerisches und Paradoxes, wenn man Werke der Vorstellungskraft auf eine pädagogische, unvermeidlich schematisierende und unpersönliche Darstellung reduziert – und auf Seminararbeiten, die auch noch benotet werden wollen –, Werke, die tiefgreifenden, manchmal herzzerreißenden oder allergrausamsten Erfahrungen entsprangen und deren wirkliche Bewertung sich nicht vom Pult eines Hörsaals herab vornehmen lässt, sondern nur in der intimen, konzentrierten Lektüre und aufgrund ihrer Eindrücke und Echos im Leben des Lesers.
    Ich kann mich nicht erinnern, dass einer meiner Literaturdozenten mir je das Gefühl gegeben hätte, ein gutes Buch führe uns an den Abgrund der menschlichen Erfahrung und ihrer brodelnden Mysterien. Literaturkritiker dagegen sehr wohl. Ich denke dabei besonders an einen, der derselben Generation wie Lionel Trilling angehörte und mich ähnlich beeindruckte wie dieser Gertrude Himmelfarb; der mich mit seiner Überzeugung ansteckte, dass das Schlimmste und das Schönste des Menschheitsabenteuers immer durch die Bücher geht und dass sie eine Hilfe sind im Leben.Ich meine Edmund Wilson, dessen To the Finland Station 11 von 1940 mir in die Hände fiel, als ich Student war, ein ganz außerordentliches Buch über die Entwicklung der sozialistischen Ideen und Literatur von Jules Michelets Entdeckung der Werke Giambattista Vicos bis zur Ankunft Lenins in Petrograd (Sankt Petersburg). Auf diesen Seiten, geschrieben in einem glasklaren Stil, ist Denken, Imaginieren und Erfinden mithilfe der Feder eine wunderbare Form, zu handeln und die Geschichte mit einem Wasserzeichen zu versehen; in jedem Kapitel tritt zutage, dass die großen gesellschaftlichen Umwälzungen oder die kleinen individuellen Schicksale in der Tiefe verbunden sind mit der ungreifbaren Welt der Ideen und literarischen Fiktionen.
    Anders als Lionel Trilling steckte Edmund Wilson in keiner pädagogischen Zwickmühle, denn er wollte nie Literatur unterrichten. Tatsächlich übte er eine Lehrtätigkeit aus, die weit umfassender war als die akademische, vom Campus eingehegte. Seine Artikel und Rezensionen erschienen in Zeitschriften und Zeitungen (was ein dekonstruktivistischer Kritiker als eine schändliche intellektuelle Degradierung betrachten würde), und einigen seiner Bücher – wie dem über die Schriftrollen vom Toten Meer – gingen zunächst entsprechende Reportagen im New Yorker voraus. Aber für das profane große Publikum zu schreiben nahm ihm nichts an Strenge noch an Kühnheit; es zwang ihn vielmehr, stets verantwortungsvoll und verständlich zu sein.
    Verantwortung und Verständlichkeit gehen einher mit einer bestimmten Auffassung von Literaturkritik, mit der Überzeugung, dass Literatur die ganze menschliche Erfahrung umfasst, insofern sie diese reflektiert und entscheidend zu ihrer Prägung beiträgt, weshalb sie, die Literatur, auch das Erbe aller sein sollte, gespeist aus einem gemeinsamen Grundstock, etwas, worauf man immer zurückgreifen kann, wenn wir im Chaos zu versinken drohen und nach einer Ordnung suchen, nach Kraft in den Stunden der Entmutigung, der Zweifel und der Unsicherheit; wenn die Wirklichkeit um uns herum allzu gewiss und vertrauensheischend erscheint. Denkt man dagegen, die Funktion von Literatur sei allein, in einem bestimmten Fachgebiet zur rhetorischen Inflation beizutragen, und Gedichte, Romane, Dramen verfolgten als einziges Ziel, eine formale Unordnung in den Sprachkorpus zu bringen, kann sich der Kritiker, nach Art so vieler Postmoderner, ungestraft den Freuden der begrifflichen Albernheiten und des wortreichen Dunkels hingeben.

Vorgeschichte
    Prüfstein
Das islamische Kopftuch
    Im Herbst 1987 erschienen in der französischen Gemeinde Creil Schülerinnen des Collège Gabriel Havez mit dem islamischen Kopftuch zum Unterricht, worauf die Schulleitung, unter Verweis auf den laizistischen Charakter des öffentlichen Schulwesens in Frankreich, den muslimischen Mädchen den Zutritt verbot. Seither findet im Land eine heftige Debatte über das Thema statt, das noch an Aktualität gewonnen hat mit der Ankündigung, Premierminister Jean-Pierre Raffarin plane dem Parlament einen Entwurf vorzulegen, der das »ostentative« Tragen politischer oder religiöser Zeichen in den staatlichen

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