Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
Geisteswissenschaften verheerende Folgen gehabt hat, scheint mir unwiderlegbar. So haben wir den Dekonstruktivisten etwa zu verdanken, dass es heutzutage nahezu unvorstellbar ist, von humanistischer Bildung zu sprechen, für sie ein Symptom von geistiger Vermottung und wissenschaftlicher Blindheit.
Wann immer ich mich auf die obskurante Prosa und die erstickenden literarischen oder philosophischen Untersuchungen von Jacques Derrida eingelassen habe, hatte ich das Gefühl, meine Zeit elend zu verplempern. Nicht weil ich glaubte, eine kritische Abhandlung habe immer nützlich zu sein – wenn sie amüsant oder anregend ist, reicht mir das. Aber wenn Literatur das ist, was er annimmt, nämlich eine Abfolge oder ein Archipel von autonomen, undurchlässigen Textenohne jede Verbindung zur äußeren Welt und also immun gegen jede Wertung und jede Wechselbeziehung mit der gesellschaftlichen Entwicklung und dem individuellen Verhalten – welchen Grund gibt es dann, sie zu dekonstruieren? Wozu dieses angestrengte Bemühen um Gelehrsamkeit und rhetorische Archäologie, diese strapaziösen Sprachgenealogien, mit denen ein Text einem anderen angenähert oder von ihm entfernt wird, bis man jene gekünstelten Dekonstruktionen verfertigt hat, die nichts weiter sind als eine animierte Leere? Es ist eine Ungereimtheit sondergleichen, wenn man erst verkündet, die Literatur sei ihrem Wesen nach unfähig, das Leben zu beeinflussen (oder von ihm beeinflusst zu werden) und irgendwelche Wahrheiten zu den großen Fragen der Menschheit zu vermitteln, und sich dann befleißigt, diese Monumente unnützer Wörter unter intellektuellem Gespreize zu zerpflücken. Als im Mittelalter die Theologen über das Geschlecht der Engel stritten, verloren sie nicht ihre Zeit, denn so unerheblich es erscheinen mag, für sie stand diese Frage in einem Zusammenhang mit so gewichtigen Dingen wie dem Seelenheil oder der ewigen Pein. Aber Wortgebilde auseinanderzunehmen, die man bestenfalls für eine große formale Nichtigkeit hält, eine moralfreie, narzisstische Gratisveranstaltung, die über nichts etwas lehrt außer über sich selbst, es bedeutet, Literaturkritik und Literaturwissenschaft als rein solipsistisches Geschäft zu betreiben.
Nachdem der Dekonstruktivismus an so vielen westlichen Universitäten (besonders in den USA) einen erheblichen Einfluss ausgeübt hat, verwundert es nicht, dass die Fachbereiche für Literatur kaum noch Studierende finden, sich dort die Schwätzer breit machen und immer weniger nicht spezialisierte Leser Interesse für Literaturkritik zeigen (die man in den Buchhandlungen mit der Lupe suchen muss, wo sie dann nicht selten in triefigen Ecken ihr Dasein fristen, zwischen Lehrbüchern für Judo und Karate oder chinesischen Horoskopen).
Für Lionel Trilling und seine Generation hatte Literaturkritik noch mit den zentralen Fragen des Daseins zu tun, denn in der Literatur sahen sie das schönste Zeugnis für die Ideen, Mythen, religiösen Anschauungen und Träume, welche Menschen antreiben, für die heimlichen Enttäuschungen oder Beweggründe, die das Verhalten des Einzelnen erklären. Trillings Glaube an die Kraft der Literatur und ihr Einwirken auf das Leben war so groß, dass er sich in einem seiner Essays in The Liberal Imagination fragte, ob nicht Literatur zu lehren an sich schon dazu angetan sei, den Studiengegenstand zu schwächen. Er brachte es mit einer Anekdote auf den Punkt: »Ich gab meinen Studenten auf, ›in den Abgrund zu schauen‹ (in die Werke von Eliot, Yeats, Joyce oder Proust), und folgsam taten sie es, machten sich Notizen und erklärten dann: ›Wirklich sehr interessant.‹« Mit anderen Worten, der Universitätsbetrieb fror die Tragik der menschlichen Natur ein, die aus diesen Werken sprach, und machte sie zu einem abstrakten Wissen, womit er sie ihrer ganzen Vitalität beraubte, ihrer Möglichkeit, das Leben der Leser grundlegend zu verändern. Wehmütig weist Gertrude Himmelfarb darauf hin, wie viel Wasser die Flüsse hinabgeflossen ist, seit Lionel Trilling die Sorge zum Ausdruck brachte, der Literatur könnte, sobald sie Lehrstoff wird, ihre Seele und ihre Kraft genommen werden, und mit welch fröhlicher Leichtigkeit ein Paul de Man sich zwanzig Jahre später der Literaturkritik bediente, um den Holocaust zu »dekonstruieren«, mit geistigen Klimmzügen, die sich kaum von jenen der revisionistischen Historiker unterscheiden, die es nicht lassen können, die Vernichtung von sechs Millionen Juden
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