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Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)

Titel: Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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solange Behörden, Lehrer, Eltern und Schüler an einem Strang zogen. So machte etwa der Direktor aus seiner Befriedigung keinen Hehl, als er darauf hinwies, dass dank dem geradeinstallierten Metalldetektor, den nun die Schüler beim Betreten der Schule passieren müssten, alle Schlagringe, Messer und sonstigen Hieb- und Stichwaffen beschlagnahmt würden, folglich seien die Gewalttaten drastisch zurückgegangen. Man hatte angeordnet, dass Lehrer wie Schüler immer in Begleitung zu sein hatten, mindestens zu zweit, nicht einmal auf die Toilette durften sie allein. So konnten Überfälle verhindert werden. Und die Schule hatte jetzt zwei Psychologen, um den schwer erziehbaren oder hartnäckig streitsüchtigen Schülerinnen und Schülern mit Rat zur Seite zu stehen – fast immer Waisen oder Halbwaisen aus Familien, die wegen Arbeitslosigkeit, Promiskuität, Kriminalität oder häuslicher Gewalt auseinandergebrochen waren.
    Was mich an der Reportage am meisten beeindruckte, war das Interview mit einer Lehrerin, die mit der größten Selbstverständlichkeit so etwas sagte wie: »Tout va bien, maintenant, mais il faut se débrouiller.« (»Es ist alles in Ordnung jetzt, aber man muss sich zu helfen wissen.«) Sie erklärte, um die Überfälle von früher zu unterbinden, hätte sie sich mit einer Gruppe Lehrer abgestimmt, sie träfen sich zu einer bestimmten Uhrzeit am nächstgelegenen Metro-Eingang und liefen dann zusammen zur Schule; so sei das Risiko, von den voyous angegriffen zu werden, geringer. Diese Lehrerin und ihre Kollegen, die jeden Tag zur Arbeit gingen, als ginge es in die Hölle, hatten resigniert, hatten zu überleben gelernt und schienen nicht einmal auf den Gedanken zu kommen, dass zu unterrichten etwas anderes sein kann als ein tägliches Martyrium.
    In diesen Tagen hatte ich gerade einen der so spitzfindigen wie anregenden Essays von Michel Foucault gelesen, in dem der französische Philosoph mit gewohnter Brillanz darlegte, dass – genau wie die Sexualität, die Psychiatrie, die Religion, die Justiz und die Sprache selbst – auch das Unterrichtswesen in der westlichen Welt immer schon eine dieser »Machtstrukturen« gewesen sei, errichtet mit dem Ziel, die Gesellschaft durch die Installierung subtiler, aber hocheffizienter Formen der Unterwerfung und Entfremdung zu bezähmen und zu unterdrücken, um so den Fortbestand der Privilegien und der Machtkontrolle der herrschenden gesellschaftlichen Gruppen zu sichern. Wie auch immer, im Bereich der Bildung jedenfalls lag ab 1968 die Autorität, welche die libertären Neigungen der jungen Menschen beschnitt, in Trümmern. Nur hatte, wenn man sich die Reportage ansah, die auch an vielen anderen Orten in Frankreich und ganz Europa hätte gedreht werden können, der Ansehensverlust und die Auflösung allein der Vorstellung von Lehrkraft und Lehrtätigkeit – und letzten Endes jeder Form von Autorität – offenbar nicht die schöpferische Befreiung des jugendlichen Geistes gebracht, sondern die derart befreiten Schulen in chaotische Institutionen verwandelt, wenn nicht in kleine Tyrannenreiche von Schlägertypen und Frühkriminellen.
    Natürlich hat der Mai 68 nicht mit der »Autorität« Schluss gemacht, auch wenn die schon lange und auf ganzer Linie, von der Politik bis zur Kultur und vor allem in der Bildung, darniederlag. Aber die Revolution der Wohlstandskinder, der Crème der bürgerlichen und privilegierten Klassen Frankreichs, die diesen lustigen Karneval anführte, der als eine seiner Parolen ausgab: »Verbieten verboten!«, sie stellte der Idee von Autorität die Sterbeurkunde aus. Dafür verlieh sie der VorstellungLegitimität und Glamour, jede Autorität sei verdächtig, schädlich und verwerflich, und das edelste libertäre Ideal sei es, sie zu leugnen, zu negieren und zu zerstören. Die Macht gab sich nicht im Mindesten berührt von dieser symbolischen Anmaßung der jungen Rebellen, die, auch wenn es den allermeisten nicht bewusst gewesen sein dürfte, die ikonoklastischen Ideale von Denkern wie Foucault zu den Barrikaden trugen. Erinnert sei daran, dass bei den ersten Wahlen in Frankreich nach dem Mai 68 die gaullistische Rechte einen satten Sieg errang.
    Doch die Autorität, im römischen Sinne von auctoritas , nicht von Macht – definiert als auf Leistung oder Tradition beruhender Einfluss einer Person oder Institution und daraus erwachsendes Ansehen –, diese Autorität hat sich nicht mehr erholt. In Europa wie auch in einem großen Teil

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