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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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gut.«
    Der Brandy im Kaffee entspannte Ingomar Kranz. Richtig denken konnte er immer noch nicht, aber jetzt hatte er eine Ausrede. Nathanael Weiß nahm einen tiefen Schluck.
    »Also: wer?«, fragte er.
    »Ich kann Ihnen nicht folgen … Wen meinen Sie?«
    »Kommen Sie, Herr Kranz, ich sitze doch nicht hier, weil Sie mir Ihr wunderschönes Wohnzimmer zeigen wollten! Gefällt mir übrigens wirklich …« Er stand auf und trat ans Panoramafenster. »Herrliche Aussicht, Stadtpark … gut, die Rückseite vom Rathaus ist weniger … Wo war ich stehengeblieben?«
    »Sie haben mich gefragt: also wer?« Dass auch der Polizist unter Gedankenflucht litt, beruhigte ihn.
    »Ach so, ja … Es müsste heißen: wen !«
    »Wen?«
    »Richtig, wen. Akkusativ. Wen wollen Sie weghaben?«
    »Ich verstehe immer noch nicht …« Das war eine Lüge. Der Gedanke, den Ingomar Kranz knapp unter der Oberfläche seines Bewusstseins schon geraume Zeit hegte, aber jedes Mal hinabstieß, wenn er aufzutauchen drohte wie eine Wasserleiche, die infolge sträflicher Schlamperei nicht fest genug am Betonblock vertäut worden war – dieser Gedanke entfaltete nun im klaren Licht vollkommener Wachheit seine glitzernden und entsetzlichen Facetten.
    »Sie haben da doch wen«, sagte Nathanael Weiß. »Schon sehr lang, vermute ich. Wenn Sie keinen hätten, wäre ich schon suspendiert und festgenommen und was weiß ich noch alles – denn dann wären Sie mit dem Video zum Staatsanwalt gelaufen und hätten es an die Zeitungen gegeben und so weiter. Also, wer ist es, was hat er getan? Ich hoffe, etwas sehr Schlechtes, sonst sehe ich schwarz. Wir haben rigide Maßstäbe.«
    »Sie und diese Frau …«
    »Exakt.«
    »Es waren keine Unterschlagungen oder so …« Ingomars Stimme klang leise, als spräche er nur zu sich selbst. Er ergänzte den Schluck, den er getrunken hatte, mit Brandy underläuterte, worin seine prinzipiellen Einwände gegen den Stadtrat Oskar Karasek bestanden. Nathanael Weiß dachte eine Weile nach. Dann sagte er: »Verräterei, ganz klar. Ein femewrogiger Punkt …«
    »Feme… was? Was ist denn das für eine Sprache?«
    »Niederdeutsch, glaube ich. Verräterei passt aber: Ihr Stadtrat verrät durch seine Vorteilsnahme den Staat, also den König …«
    »Welchen König?«
    Nathanael Weiß erklärte ihm die Sache mit den zwei Körpern des Königs, Ingomar Kranz verstand die Angelegenheit nur ungefähr und schenkte beiden nach. Dieser Weiß war verrückt, keine Frage, und die Frau ebenfalls. Typische Zeichen geschlossener Denksysteme. Von deren Standpunkt aus klang alles logisch und konsistent. Aber eben nur von diesem ganz eigentümlichen Standpunkt aus. Sobald man einen anderen Standpunkt einnahm … aber welchen? Er dachte nach. Nathanael Weiß hatte geendet und starrte in seine Kaffeetasse. Er wartete. Auf die Entgegnung des Ingomar Kranz. Denn dies war ein Streitgespräch, oder sollte es zumindest sein, dachte Ingomar. Der Soziopath mit Mittelalter-Spleen gegen die Aufklärung auf christlich-abendländischer Grundlage … oder gegen die fundamentale Ethik oder gegen … Er verhedderte sich; er musste sich jetzt am Riemen reißen und etwas Bedeutendes antworten; alle Heroen der neueren Geistesgeschichte sahen ihm über die Schulter, warteten wie Nathanael Weiß gespannt auf die Antwort des weit über Normalmaß gebildeten Ingomar Kranz, der, wenn er erst mehr Zeit hätte, seine Dissertation in Soziologie abschließen würde. Aber es kam nichts. Kein einziges Argument. Sein Kopf war fast leer; er wusste nur, dass es nicht am Brandy lag. Diese Ausrede glaubte er nicht. Endlich sagte er: »Es ist verboten. Man darf es nicht tun.«
    »Ach, kommen Sie! Ich bitte Sie, was ist denn das für eine Antwort? Verboten! Verboten ist viel … und vom wem? Von der Polizei? Ich bin die Polizei!« Er begann zu lachen. Dann nahm er noch einen Schluck.
    »Nein, ich meine, es verletzt die Menschenrechte, die seit zweihundert Jahren die Grundlage unseres Gemeinwesens sind. Ohne solche Grundlagen, ohne einen Regelkanon zerfällt die Gesellschaft …« Jetzt hatte er den Bogen gefunden. Er war erleichtert.
    »Das hieße ja, vor der Französischen Revolution gab es keine Gesellschaft?«
    »Doch – aber sie beruhte auf Willkür und Ungerechtigkeit, sie war nicht demokratisch.«
    »Wenn ich Ihr Argument aufnehme, dann müsste aber die moderne Gesellschaft, die Ihnen so teuer ist, auch vor Gefahren geschützt werden. Denn sie ist offensichtlich kein Zustand der

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