Alles Fleisch ist Gras
Verhältnisse, der sich einfach von selber einstellt und regelt, sie ist nicht naturgegeben.«
»Ja, aber Schutz kann doch nicht bedeuten …«
»Dass ich gewisse Elemente beseitige? Gefahren banne? Warum nicht? Oder glauben Sie, Konrad Mugler war keine Gefahr für diese Gesellschaft?«
»Das ist doch billige Polemik! Natürlich war Mugler eine Gefahr. Aber diese Gefahr zu … zu bannen, gibt es doch Regeln und Verfahren, die in Übereinstimmung …«
»… mit den Menschenrechten sind, d’accord. Aber Sie nützen nichts, diese Regeln und Verfahren. Sie haben hier einen Polizisten vor sich, Herr Kranz, einen Polizisten mit einiger Berufserfahrung. Ich will Sie nicht langweilen mit der Schilderung unserer Versuche, diesen Konrad Mugler dranzukriegen. Es war alles umsonst. Das System selber schützt ihn besser als seine Opfer. Viel besser. Das Rechtssystem ist aufdas Individuum abgestellt. Die Rechte des Individuums, die Pflichten des Individuums … Heute ist wahnsinnig viel von Gesellschaft die Rede, aber im geltenden Recht kommt Gesellschaft nur als Wirtschaftsbegriff vor, Gesellschaft mit beschränkter Haftung und so weiter – und das sind auch nur Individuen. Diese Überbetonung des Individuellen ist es, die unsere Gesellschaft zerstört.«
All das hatte Ingomar Kranz schon einmal gehört, fast dieselben Worte, er konnte sich nur nicht erinnern, wo das gewesen war, noch wann. Oder hatte er es gelesen? Es war falsch, natürlich falsch, so konnte man nicht argumentieren. Wie aber dann? Wo lag der Denkfehler? Oder die unrichtige Voraussetzung. Der falsche Schluss …
»Auf den ersten Blick«, setzte Weiß fort, »ist es paradox, wenn ich, um die Gesellschaft zu schützen, die Regeln, auf denen diese Gesellschaft beruht, außer Kraft setze – das wollten Sie mir doch eben sagen, oder?«
Ingomar nickte. Er war froh über das, was Weiß eben gesagt hatte.
»Nehmen wir einmal an, die Voraussetzung stimme: dass nämlich eine Gesellschaft auf ebendiesem Regelkanon beruht – jede Gesellschaft! Man sagt es nicht so, aber es ist immer mitgemeint. Auch dann muss man zugeben, dass die Entwicklung der Gesellschaft zu einem Punkt gelangen kann, wo sie selber Erscheinungen … hervorbringt, die ihre eigenen Grundlagen aufheben … Wie sagt man da noch …«
»Negieren«, sagte Ingomar Kranz. In seinem Kopf wurde es klarer, er kam auf vertrautes Terrain. »Man nennt das Dialektik, These, Antithese und so weiter. Das ist eine hübsche … nein, keine Theorie, sondern ein Tool, ein Werkzeug, man kann auch sagen, ein Trick – um alles und jedes zu erklären, vor allem aber zu rechtfertigen. Die Dialektik würde sich heutegrößerer Beliebtheit erfreuen, wenn man sie nicht eben dazu so ausgiebig ausgenützt hätte. Zum Rechtfertigen. Auch der Gulag war dialektisch begründet …«
»Ich sehe, Sie sind kein Freund der Methode, das macht aber nichts, ich bin es auch nicht, ich brauche diese Methode nicht. Denn die Voraussetzung unserer Annahme ist falsch. Der Regelkanon, der mir verbietet, meine Arbeit zu tun, ist nicht für jede Gesellschaft gültig. Es hat vor dieser andere Gesellschaften gegeben und wird nach ihr weitere geben. Mit anderen Regeln, anderen Normen. Wir richten uns bei diesem … Projekt nach einem Kanon aus dem 14. Jahrhundert. Und es funktioniert ganz gut.«
»Aber Sie sind dazu doch nicht legitimiert! Wer hat Sie beauftragt?«
»Ich selber. Ich habe mich selber ermächtigt. Wie sich jeder Exekutivbeamte selber in Dienst stellt, wenn Gefahr droht, ermächtige ich mich selber …«
»Sie haben keine demokratische Legitimation, das müssen Sie zugeben!«
»Sie wollen die Leute abstimmen lassen?« Nathanael Weiß stand auf und trat ans Panoramafenster. Mit weit ausholender Geste deutete er auf die Stadt darunter. »Sie wollen alle diese Leute fragen? Aber dann bitte in einer geheimen Wahl und mit einer klaren Frage: Soll die Polizei die Gesellschaft von gefährlichen Elementen säubern. Ja oder nein?«
»Das ist doch absurd, so eine Wahl …«
»… könnte niemals stattfinden, schon klar. Wenn man sie nämlich durchführen könnte, hätten wir das ganze Problem auch schon gelöst – dann bräuchte sich der arme Chefinspektor Weiß nicht zu bemühen! Dann hätte August Mungenast die Sache längst selber in die Hand genommen und den Mugler einfach erschossen …«
»Wer ist August Mungenast?«
»Der Vater von Tobias Mungenast, der mit zweiundzwanzig an einer Überdosis gestorben ist. Letztes
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