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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Jahr.«
    Darauf zog es Ingomar Kranz vor, nichts zu erwidern.
    »Aber schön, lassen wir Herrn Mungenast und seine private Misere beiseite, bleiben wir streng sachlich und allgemein, kein Wort von Leid und Schmerz! Sonst heißt es gleich, ich sei Populist …« Weiß lachte so laut, dass Ingomar zusammenzuckte.
    »Lasst die Leute abstimmen, nur als Gedankenexperiment: Wie würden die sich dann entscheiden in der Abgeschiedenheit der Wahlzelle? Für die Methode Weiß – oder für das übliche Verfahren?«
    Kranz antwortete nicht.
    »Bruno Kreisky hat einmal gesagt, bei der Todesstrafe dürfen Sie die Basis nicht fragen. Er hatte recht. Von seinem Standpunkt aus, den ich nicht teile.«
    Kranz sagte noch immer nichts. Er starrte auf den Boden. Weiß wandte sich dem Fenster zu. Nach einer Weile fragte er: »Sind Sie religiös, Herr Kranz?«
    »Eher nicht. Warum fragen Sie?«
    »Eher nicht … Das ist gut: Wenn Sie religiös wären – im christlichen Sinne, hätte ich ein Problem.«
    »Wieso? Sie würden doch sowieso …«
    »… tun, was mir richtig erscheint, ganz recht. Nein, ich meine, ich hätte ein Überzeugungsproblem. Ich kann niemanden überzeugen, der sich aufs fünfte Gebot beruft, auf eine außermenschliche Instanz. Er hat gesagt, es ist verboten, basta!«
    »Und da ich nicht religiös bin, glauben Sie, mich davon überzeugen zu können, dass diese … diese Dinge richtig sind, die Sie da tun?«
    »Nein, das glaube ich nicht. Sondern ich weiß, dass ich Sie schon überzeugt habe. Wir können jetzt natürlich noch ein paar Stunden Argumente austauschen und diesen ganzen Proseminarscheiß abziehen – aber ich habe nicht so viel Zeit. Entscheiden Sie sich. Wer stellt die größere Gefahr für das Gemeinwesen dar: Karasek oder ich?«
    »Sie können die Dinge doch nicht so …«
    »… die Dinge nicht so zuspitzen, meinen Sie? Natürlich kann ich. Letzten Endes sind diese Dinge immer so. Schwarz oder weiß. Alles andere ist Geschwätz. Ich gebe zu, Karasek stünde nicht ganz oben auf meiner Liste. Aber ich gebe gern zu, da fehlt mir der Durchblick …« Er hob die Hände. »Da sind Sie der Fachmann, wie ich wohl eher der Fachmann für Leute vom Schlage Muglers bin. Wenn Sie sagen, Karasek ist eine Gefahr, dann glaube ich Ihnen das. Ich bin Polizist, ich sehe das von einem anderen Standpunkt, aber das ist déformation professionnelle , ich weiß, dass es das gibt, ich bin davon nicht frei – Sie haben die Expertise, Sie sehen eher in die Tiefe der Gesellschaft, ich auf die Oberfläche … wo der Dreck rauskommt, der Eiter …«
    »Sie reden davon, als ob wir Ärzte wären …« Ingomar lachte, er konnte es nicht unterdrücken.
    »Solang wir nur darüber reden, sind wir Schwätzer, sonst nichts. Erst wenn wir etwas gegen das Übel tun, sind wir Ärzte.«
    »Ich … ich muss mir …«
    »… das überlegen, schon klar. Sie haben Zeit bis morgen früh. Sagen wir: neun Uhr. Passt das?«
    »Neun Uhr ist eine gute Zeit.«
    »Ich finde selber raus, bemühen Sie sich nicht.«
    Nathanael Weiß ging. Ingomar Kranz schenkte Brandy nach. Die Flüssigkeit in der Tasse bestand fast nur daraus, Kaffeegab es noch in Spuren. Er nahm einen großen Schluck. Zum Nachdenken war er schon zu betrunken, das wusste er. Aber es machte nichts. Denn es gab nichts nachzudenken. Nicht mehr.

    *

    Ingomar Kranz hatte es sich leichter vorgestellt. Das Video gab trotz Farbe und ausreichender Schärfe nicht den richtigen Eindruck von der Aktion. Er hatte es eben noch auf die Toilette im Hauptgebäude geschafft, kniete vor der Muschel, umklammerte den Rand mit beiden Händen. Er hoffte inständig, dass nichts mehr kam. Im Flur stand Chefinspektor Weiß und versuchte durch die halboffene Tür zu trösten; er sprach halblaut, Kranz verstand nicht alles, aber die Stimme von Nathanael Weiß hatte etwas Beruhigendes. Ingomar versuchte aufzustehen.
    »Lassen Sie sich Zeit«, sagte Weiß, »es kommt niemand. Ich warte draußen.« Er ging.
    Der Magen des Ingomar Kranz beruhigte sich, enthielt auch nichts mehr, was eines Würgereflexes wert gewesen wäre. Ingomar begann nachzudenken. Er erhob sich vom gefliesten Boden, klappte den Deckel runter und setzte sich hin. Das Erbrechen hatte ihn mit Verzögerung erfasst, ein Zeitzünder-Kotzen, er lächelte über den Ausdruck, solche Sachen fielen ihm ein, egal, in welcher Lage. Ja, er war wirklich gut.
    Ganz am Anfang war es wie ein Abenteuer gewesen, kindisches Räuber-und-Gendarm-Gehabe. Es hatte Spaß

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