Alles Fleisch ist Gras
verdiente wie verrückt, die Zahlen Baumanns waren erstaunlich, in der Wiener Zentrale wurde man aufmerksam; die Zahl seiner internen Neider wuchs exponentiell. Als die Blase dann platzte, erlebten diese Neider einen schwarzen Tag, denn Direktor Baumann aus Dornbirn war von alldem nicht betroffen, im Gegenteil: Er hatte ein halbes Jahr zuvor die riskanten Investments zurückgefahren und Kasse gemacht. Warum? Das wurde er oft gefragt. Instinkt, sagte er dann und lächelte, selbstgefällig, wie seine Gegner fanden. Nach dem berühmten Satz, wonach man Mitleid geschenkt bekommt, sich den Neid aber verdienen müsse, hätte er aber alle jemals erzeugten Neidgefühle mit einem Schlag in solche des Mitleids verwandeln können – wenn er nur den wahren Grund für den Ausstieg aus obskuren Immobilienfonds genannt hätte. Denn dieser Ausstieg erfolgte aufgrund eines Traums.
Kurz nach dem merkwürdigen, in seinen Ursachen nie aufgeklärten Absturz der Privatmaschine des Finanziers Harlander, etwa drei Tage oder, besser, Nächte später, hatte Baumann einen so intensiven Traum, dass er nach dem Aufwachen nichtnur jedes Detail wiedergeben konnte, sondern von der Wahrhaftigkeit des Geträumten völlig überzeugt war. Man wird so einer Reaktion bei einem hartgesottenen Bankmenschen eine gewisse Skepsis entgegenbringen, dagegen den Satz »Direktor Baumann träumt nie« für glaubwürdig halten, aber das sind Vorurteile. Nein, nein, auch Banker träumen, Baumann selten, wenn er aber Träume hatte, bezogen die sich auf die Zukunft, und zwar ausschließlich. Das Geträumte traf dann auch ein. Ja, natürlich immer! Beispiele? Belassen wir es bei einem: Am 24. Dezember 2004 träumte Direktor Baumann von einer riesigen Wasserwelle, die über einen tropischen Strand hereinbrach und zahlreiche Menschen verschlang. Als er drei Tage später die Fernsehbilder sah, fing er an zu lachen. Die Bilder entsprachen dem, was er im Traum gesehen hatte, bis in Einzelheiten. Kamerastandpunkt, Beleuchtung, Bildausschnitt. Er hatte, wenn er es recht bedachte, nicht das Ereignis vorausgeträumt, sondern die Bilder von dem Ereignis, wie sie dann durch das Fernsehen verbreitet wurden.
Wer nun annimmt, so ein Erlebnis müsse einen Menschen tief erschüttern, kennt Direktor Baumann schlecht. Er nahm seine Gabe, die Zukunft vorherzuträumen, wie ein bizarres Accessoire seiner psychischen Ausstattung. Wie manche Menschen fähig sind, mit den Ohren zu wackeln, konnte er eben die nahe Zukunft im Traum erschauen, fast immer eine vollständig nutzlose Kunst, nehmen wir nur den Tsunami Weihnachten 2004: Wie hätte Direktor Baumann seinen Wahrtraum zu irgendeiner Art der Warnung verwenden sollen? »Ihr Menschen an den tropischen Küsten der Erde: Haltet euch fern von diesen Küsten!« Er hätte anhand seiner Traumerinnerung den Ort nicht einmal auf Asien einschränken können, die Leute auf seinen Traumbildern waren zu klein für rassische Zuordnungen.
Für gewöhnlich erleben Menschen mit dem zweiten Gesicht schwere Krisen, wenn das zuvor Geschaute eintrifft, Kassandra ist das erste Beispiel. Von Krisen war Direktor Baumann weit entfernt. Leute, die das Missvergnügen hatten, ihn zu kennen, hätten das ohne weitere Überlegung auf seine Herzenskälte zurückgeführt – aber niemand wusste von diesen Träumen, auch seine Frau Karin nicht, denn er schreckte nicht aus dem Schlaf hoch, was einfach daran lag, dass diese Traumerlebnisse durch die Abwesenheit jeder Emotion gekennzeichnet waren. Er fürchtete sich nicht, verfolgte die Vorgänge in seinen Träumen mit vagem Interesse.
Den ersten Wahrtraum hatte er im Alter von achtzehn Jahren erlebt, wenige Tage vor der Matura. Da träumte er, er schlage den schmalen blauen Band auf, in dem das Geschichtswerk des Thukydides für Gymnasialzwecke auf knapp neunzig Seiten eingedampft war; genau jenes abgegriffene Büchlein, das er selber besaß, und blättere darin, bis er (im Traum) ohne besonderen Anlass bei der Überschrift »Die Pest in Athen (II 47–49)«, dem einzigen deutschen Satz in der griechischen Textmasse, innehielt, noch eine einzelne Seite umblätterte und dann bei der Nummer 49 verharrte. Weiter passierte nichts, er konnte den Text nicht lesen, der verschwamm vor den Augen, die Nummer 49 war aber so klar, dass er nach dem Aufwachen beschloss, es könne nicht schaden, sich die Stelle genauer anzusehen. Das tat er dann auch. Was kam zur Griechisch-Matura? Thukydides, Band II seines Geschichtswerks, Paragraph
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