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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Er hatte sich bis jetzt nur auf das Unangenehme daran konzentriert, das Schwierige ausgelassen. Es war nicht so einfach, eine Lösung zu finden. Vielleicht gab es ja gar keine.
    Er hatte die Medien informiert. Mit welchem Ergebnis? Mit gar keinem. Als ob er gar nicht dort gewesen wäre. Sollte er noch einmal hingehen?
    Herr Kranz, ich wollte Sie noch einmal an dieses Video erinnern …
    Welches Video ?
    Das, wo der Leiter der Kriminalabteilung eine Leiche durch den Fleischwolf dreht …
    Ach das! Genau! Hat er ihn nicht vorher umgebracht? Das ist aber nicht drauf?
    Nein, nur die Fleischwolfsache …
    Gut, dass Sie mich erinnern, ich hätt’ es glatt vergessen, ich hab momentan so viel um die Ohren. Wegen der Landtagswahl …
    Verstehe …
    Ich geh der Sache gleich nach, versprochen!
    Würde es sich so abspielen? Vermutlich nicht. Wenn er weiter so insistierte, könnte es sein, dass er selber … Er war dahineingeraten. Ohne eigenes Zutun, jawohl. »Ohne eigenes Zutun!«, rief er in die abendliche Stille des Büros. Ein Stubser, wenn man körperlich angegriffen wird, das ist kein Zutun , verdammt noch mal! Das ist ein Versehen, nicht einmal eine Fehlhandlung, nicht einmal eine Übertreibung, sondern schlichtes Versehen! Wie wenn man ein Glas fallen lässt. Das passiert allen Menschen.
    Er schenkte sich noch ein Gläschen ein, trank es in einem Zug aus und verließ das Büro. Er fühlte sich getröstet. Er hatte ein Problem, jawohl, das war nicht zu leugnen. Er sollte es lösen, dieses Problem, wie man alle Probleme lösen soll, sonst hießen sie ja nicht so, die Probleme.
    Aber nicht heute und nicht morgen. Dazu war es zu schwierig. Kindische Vorstellung, die Lösung könnte in einem einzigen Einfall bestehen, einem einzelnen Wort. Wie beim Fernsehquiz. Und vielleicht gab es auch keine Lösung, das war ja immerhin möglich. Oder die Lösung würde Jahrhunderte in Anspruch nehmen wie der Beweis gewisser Vermutungen in der Mathematik. Regte sich dort jemand auf? Nein, wenn es nicht geht, dann geht es halt nicht! Er konnte jetzt nichts tun. Nur nachdenken. Wenn er Zeit hatte. Er musste auch noch einen Beruf ausüben, die ganze Stadt hing davon ab, fünfundvierzigtausend Menschen, denen buchstäblich die Scheiße … wenn er einen Fehler machte. Klar, daran dachte niemand, das nahmen alle für selbstverständlich. Selbstverständlich war gar nichts …
    Als er daheim angekommen war, hatte er einen Grad der Selbstgerechtigkeit und Selbstrechtfertigung erreicht, als habe er eben ein sündteures mehrtägiges Seminar für Führungskräfte absolviert. Er plauderte angeregt mit Hilde und bezog die Töchter ins Gespräch ein, die darauf allerdings keinen gesteigerten Wert zu legen schienen. Hilde freute sich, dass esihm besser ging. Ja, sie freute sich, sie lächelte, es war ihr anzusehen, es ging ihr gut.
    Nur mit dem Einschlafen hatte er Probleme. Als es endlich gelang, überfielen ihn Träume besonderer Farbigkeit und Plastizität, aus denen er hochschreckte. Schon zwei Minuten nach dem Erwachen konnte er sich nicht mehr an den Inhalt erinnern, dämmerte wieder ein, glitt in den nächsten Traum. Er erwachte schon um fünf mit fürchterlichem Durst, metallischem Geschmack im Mund und Kopfschmerzen. Er trank in der Küche zwei große Wassergläser aus, setzte sich im Wohnzimmer in einen Sessel und dachte nach. Es brachte nichts, die Gedanken gingen im Kreis, es schienen dieselben Gedanken zu sein wie am Vortag. Aber es fehlten auch Panik und Furcht. Es fehlte die quälende Empfindung eigenen Ungenügens, dieses Etwas-tun-Müssen, jetzt gleich, innerhalb der nächsten zwei Minuten. Er war nur verdrossen und verkatert. Er ging in die Küche zurück, nahm zwei Aspirin mit Wasser und begann einen Artikel in der Zeitung zu lesen.
    Hilde wunderte sich, dass er schon wach war, sagte aber nichts. Er blieb während des Frühstücks schweigsam. Der Kaffee tat gut, der Kopf nicht mehr weh, er fuhr zur Arbeit. Es ging so. Er schwieg auch beim Mittagessen, murmelte nur, er müsse früher weg, fuhr auch früher als sonst.
    Am Nachmittag hatte er sich so weit erholt, dass er klar denken konnte. Das Problem mit dem Häcksler blieb ungelöst; er hatte nur eine Erkenntnis gewonnen: Alkohol war keine Lösung. Er war ungeeignet als Alkoholiker. Das funktionierte bei ihm nicht. Er müsste jetzt, an diesem Nachmittag, um dasselbe Gefühl auch nur brüchiger Selbstgerechtigkeit wieder zu erzeugen, eine ganze Menge nachschütten. Das war ihm

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