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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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unmöglich, das hielt er nicht aus, für diese Methode war er der Falsche. Er musste etwas anderes tun, etwas mehr Ingenieurmäßiges.Er kannte sich in diesen Dingen besser aus als Nathanael Weiß. Anton Galba hatte sich blenden lassen, ins Bockshorn jagen von der kriminellen Energie des Polizisten. Es war eine Reaktion wie auf eine Fangfrage in einem Test. Man ist darauf nicht vorbereitet, haut die Nerven weg. Aber nur einmal. Dann hat der Trick seine Wirkung verloren. Wenn Weiß in die Anlage eindrang und die Aufzeichnungen manipulierte, musste es eben weitere Aufzeichnungen geben, die er nicht manipulieren konnte, weil er nicht davon wusste. Es kam nur darauf an, eine weitere Kamera anzubringen, nein, keine zweite, sondern viele andere, vier, fünf oder auch zehn und zwanzig. An Orten, auf die niemand kam. Vernetzt. Unabhängig von der IT der Anlage. Das war alles machbar. Teuer, aber machbar. Er konnte sich die Webcams besorgen, die Verdrahtung installieren. Er wusste nichts darüber, aber er wusste, wo er die Informationen herbekam. Er würde ein bisschen studieren, sich einlesen und dann handeln.
    Als er mit seinen Überlegungen so weit gekommen war, stand er auf und wanderte im Büro auf und ab. Es war unglaublich. Die ganze Zeit hatte er auf das Problem gestarrt wie das Kaninchen auf die Schlange, wochenlang. Dabei lag die Lösung klar vor ihm. Gegen Videomanipulation hilft noch mehr Video; daran zu zweifeln, gab es keinen Grund. Er konnte die Anlage mit Überwachungsmaßnahmen verseuchen wie einen Hochsicherheitsknast aus einem Science-Fiction-Thriller, er hatte die Mittel dazu, die Fähigkeiten und vor allem: die Zeit. Er war den ganzen Tag hier, wenn es sein musste, auch die halbe Nacht. Weiß dagegen hatte nur die Nacht – die andere Hälfte, die ihm Galba ließ. Weiß konnte den Häcksler in Betrieb nehmen und den Computer manipulieren, der groß und breit in Galbas Büro stand. Und nicht einmal besonders intelligent. Fimberger auftauchen zu lassen,ja, und die Zeit der Aufnahme zu ändern, daran hatte er noch gedacht, im letzten Augenblick war ihm wohl noch eingefallen, dass ein Fimberger, der laut Insert um vier Uhr früh Fleischabfälle entsorgt, auch dem Wohlmeinendsten komisch vorkommen müsste. Billig war das alles, so billig!
    Aber er, Galba, hatte es ja lang geglaubt, das musste er seinem Widersacher zugestehen. Ohne die Sache mit dem Schal hätte er es auch noch länger geglaubt, wer weiß, wie lang. Jahrelang. Bis zur Pensionierung. Weil man gern glaubt, was man glauben will, dachte er. Ja, Herr Ingenieur, der Druck im Reaktor ist normal, das Manometer zeigt es ja an, oder? Was soll sein? Man kommt nicht auf die Idee, ans Glas zu klopfen, um den hängen gebliebenen Zeiger zu lockern; nicht nach zehn Jahren. Der Zeiger ist nie hängen geblieben. Bis heute. Heute ist alles anders … Genau so hatte er sich verhalten. Wie der Unglückswurm in der Schaltzentrale. Alles ist normal. Weil alles normal sein muss. Aber so ist es eben nicht gewesen.
    Weiß machte keine großen Pläne. Er handelte instinktiv. Das war sicher richtig. Großartige Pläne gehen großartig schief. Weiß dachte nicht nach. Er ging hin und tat, was er für richtig hielt. Einfach so. Er stellte keine sophistischen Haarspaltereien an. Ob es eventuell weitere Kameras gab. Ob Galba glaubte, was er sah. Alle glaubten, was sie auf einem Bildschirm sahen; mehr, als wenn sie es mit den eigenen Augen gesehen hätten. Das war eben so. Weiß hatte recht.

    *

    Das Verhängnis von Direktor Baumann war seine Unzufriedenheit. Seit er denken konnte, plagte ihn die Gewissheit der Nichtübereinstimmung seiner realen persönlichen Verhältnisse mit jenen, wie sie hätten sein sollen. Er versuchte zeitseines Lebens, diese Diskrepanz, die er als massiven Bruch empfand, zu beseitigen, und tat alles, was ihm dazu nötig schien, ohne Rücksicht auf irgendwen zu nehmen, auch nicht auf sich selbst. Dass jemand mit dieser Einstellung im Bankgeschäft recht rasch Karriere machte, konnte auch in der Provinz nicht ausbleiben; nichtsdestotrotz blieb für Direktor Baumann das Erreichte zu wenig, Posten und Sozialprestige waren noch weit unter dem, was er als angemessen empfand. Als Leiter einer Bank, deren traditionelle Aufgabe in der Kreditgewährung für das örtliche Gewerbe bestand, blieb sein Wirkungskreis beschränkt. Das wurmte ihn. Also suchte er nach neuen Geschäftsmöglichkeiten und fand sie in der Phase des ausufernden Derivatehandels. Die Bank

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