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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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49 . Baumann schrieb ein glattes Sehr gut und maturierte mit Vorzug, was ihm ein Stipendium einbrachte und ihn auf jene Schiene setzte, die von einem absolvierten Zeugnis zum nächsten und in Rekordzeit zum Doktor juris führte. Vergessen hatte er das nie, dem Ereignis aber auch keine besondere Bedeutung zugemessen. Er lebte normal,ging ins Bankwesen, stieg auf, heiratete, hatte Kinder (Sohn und Tochter) und hatte Träume, die sich erfüllten. Meistens konnte er damit nichts anfangen, das zweite Gesicht war in gewissem Sinne an ihn verschwendet; eine Fehlzuteilung jener höheren Instanz, die solche Träume schickte, wenn es denn eine solche Instanz überhaupt gab. Aussehen tat es jedenfalls wie eine ärgerliche Schlamperei, Verstaatlichte Industrie oder so …
    Er nahm das nicht ernst, bis er in jenem Frühjahr nach dem Harlander-Absturz wieder träumte, diesmal glich alles einem Fernsehbeitrag, die Kamera fuhr durch vorstädtisches Gebiet, vor jedem zweiten Haus stand ein großes Schild, den Schriftzug real estate erkannte er im Vorbeifahren und eine Menge Preise. Ob die hoch oder niedrig waren, konnte er im Traum nicht beurteilen, klar war aber, dass diese Häuser verkauft werden sollten, und zwar alle und jetzt. Man musste kein ökonomisches Genie sein, um zu erkennen, dass dies auf die Preise drücken würde; als Baumann aufwachte, zog er ein paar Schlussfolgerungen und stieg in den nächsten Wochen aus den Immobilieninvestments aus, die er eingegangen war.
    Direktor Baumann hatte bei all seinen Handlungen immer das Interesse der Bank im Auge, nie sein eigenes; man darf sagen, dass der Thukydides-Wahrtraum vor seiner Griechisch-Matura der letzte gewesen war, aus dem er persönlichen Nutzen gezogen hatte. Er gehörte auch nicht zu jenen Zeitgenossen, die Anweisungen der Zentrale in Zweifel ziehen und unter mehr oder auch weniger vorgehaltener Hand kritisieren. Das Einzige, was ihn an der Wiener Zentrale störte, war, dass er ihr nicht angehörte, dies zu erreichen, war sein Lebensziel, und er bemühte sich, alle Anweisungen, die von dort kamen, auf Punkt und Komma umzusetzen. Als im Verlauf der Finanzkrise die Vergaberichtlinien für Kredite verschärftwurden, dachte er nicht eine Sekunde daran, die neuen Vorschriften abzumildern. Das brachte für jene Häuslebauer, deren Eigenheimträume in ortsüblicher Weise auf Kante gerechnet waren, große Unannehmlichkeiten mit sich. Fremdwährungskredite wurden, den Anweisungen der Zentrale folgend, umgeschuldet, die höheren Eurozinsen konnten von manchen nicht mehr gezahlt werden. Oder endfällige Kredite, die dereinst mit einem Tilgungsträger hätten bezahlt werden sollen, wurden fällig gestellt, nachdem dieser aktienbasierte Tilgungsträger im Verlauf von drei Wochen die Hälfte seines Wertes verloren hatte. Das alles zusammen brachte viele Kunden der Bank des Direktors Baumann in große finanzielle Probleme, die auch durch die nachfolgenden Zwangsversteigerungen nicht geringer wurden. Noch bitterer als das rein Geldliche war das Zerplatzen von Lebensträumen, was die Betroffenen in einen Strudel aus Erbitterung und Wut fallen ließ. Manche dieser Betroffenen waren mit Nathanaels Helferin bekannt.
    Wäre Direktor Baumann nur ein wenig zufriedener gewesen mit der Lage der Dinge – alles hätte für ihn anders ausgehen können. Aber der quälende Ärger, nicht die Stellung innezuhaben, die ihm nach seiner Ansicht zustand, steigerte sich im Laufe der Finanzkrise zu schwerem Gram, der ihn niederbeugte. Baumann war Realist genug, zu begreifen, wie die Dinge lagen; er hatte eben, das lag klar zutage, in Wien nicht genügend Protektion, man stützte nun die Idioten, die auf die Blase hereingefallen waren, indem man die Institute und damit die obersten Posten rettete, die allseits waltende Ungerechtigkeit steigerte sich unter den Bedingungen der Krise zum Paroxysmus: Statt diese Tröpfe mit nassen Fetzen aus der Stadt zu jagen, wurden sie vom allerbarmenden Staat aufgefangen wie in Abrahams Schoß, mussten nur auf die allerfrechstenfinanziellen Vergütungen verzichten, um die Massen zu beruhigen. Und die Massen ließen sich beruhigen. Sie murrten zwar und gossen dieses Murren in die Leserbriefspalten der Zeitungen und in die Mikrophone der elektronischen Medien, aber mehr war nicht – kein Vorsitzender einer Großbank kam in die Verlegenheit, wohin er am Abend sein Haupt betten sollte, weil der Mob seine Villa niedergebrannt hatte. Nichts wurde abgefackelt, nicht einmal zur

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