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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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nur noch indirekte Beweise. Das manipulierte Videofile. Also mindestens eine weitere Person war noch in den Häcksler gewandert, es konnten natürlich auch mehrere sein. Aber war es wahrscheinlich?
    Er setzte sich, skizzierte mithilfe des Schreibkalenders eine Liste der Ereignisse. Die Daten waren nicht sehr genau, er erinnerte sich nicht mehr, nur ein einziges Datum wusste ersicher. Als ihn Helga verlassen hatte. Das machte aber nichts; auch mit nur ungefähren zeitlichen Bezügen ergab eine kurze Rechnung ein doch überraschendes Bild: Etwa alle sechs Wochen ein Vorfall , das war moderat, man konnte darüber denken, was man wollte, er hätte die Quote rein aus dem Bauch heraus viel höher geschätzt, da sieht man wieder, welche Streiche es einem spielen kann, das eigene Gedächtnis.
    Das Gläschen war leer, er schenkte nach. Summa summarum vier Fälle in einem halben Jahr, da konnte man kaum von Massenmord sprechen, oder? Verwerflich, ungesetzlich, keine Frage, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren, aber wir müssen auch bei den realen Zahlen bleiben, sonst leisten wir nur den … den … Mystikat… Mystifikationen Vorschub.
    Das hatte er laut gesagt. »Vier, nicht etwa fünf.« Auch mehr als drei, wahrscheinlich schon, obwohl er vom vierten gar nichts wusste, den hatte er nicht gesehen, nur aus Indizien auf seine Existenz geschlossen, aber lassen wir es einmal viere sein, das sind nicht fünf! Oder sechs! Sondern eben nur vier! Verdammt noch mal! Und das ist ein Unterschied. Auch, wenn es hundertmal so viele wären, oder tausendmal, viertausend und sechstausend, dann wäre es eben doch nur viertausend! Und nicht sechstausend, jawohl! Da beißt die Maus keinen Faden ab, auch nicht, wenn es noch einmal tausendmal so viele wären, vier Millionen. Dann wären es eben vier Millionen, verdammte Scheiße! Aber keine sechs Millionen! Zum Beispiel. Immer bei der Wahrheit bleiben, bei der nackten Zahl!
    Er schenkte sich ein, trank in kleinen Schlucken.
    Vier also. Er streckte die linke Faust aus, hob sie gegen die Decke, entfaltete die Finger. Den Zeigefinger, den Mittelfinger, den Ringfinger, den kleinen Finger. Wie viele Finger? Vier. Kein Daumen. Er blinzelte, neigte den Kopf, betrachtete dieHand aus verschiedenen Winkeln. Wie viele Finger? Vier. Es wurden nicht mehr. Vier Finger. Vier Millionen. Wobei die vierte … hatte er gar nicht gesehen … nur Indizien. Höchstens vier. Nicht einmal fünf, schon gar nicht sechs Millionen. Eine Hand mit sechs Fingern gab es ja gar nicht, sechs Millionen konnten es gar nicht sein. Keine sechs Finger. Wieso kam er auf die Millionen?
    Beim Nach-oben-Schauen wurde ihm schwindlig, einen winzigen Augenblick meinte er, aus dem Handrücken den Daumen herauswachsen zu sehen, obwohl er den doch, den Daumen, in die abgewandte Handfläche presste, und dann auf der anderen Seite, noch kurioser, einen sechsten, absolut unanatomischen Finger; nur einen Augenblick, dann rutschte er vom Stuhl auf den Boden. Alles wurde schwarz.
    Als er wach wurde, tat ihm der Kopf weh, sonst nichts. Schlecht war ihm auch nicht. »Ich hab übertrieben«, sagte er laut zu sich. Niemand sonst war im Raum, die Tür zu. Er betrachtete die Flasche auf dem Schreibtisch. Immer noch halbvoll, erstaunlich. Dann hatte er gar nicht so viel getrunken. Er ging in den Waschraum, spritzte sich Wasser ins Gesicht. Gleich ging es besser. Zu schnell zu viel getrunken. Kann vorkommen. »Bin ich perfekt?«, fragte er mit lauter Stimme den Spiegel über dem Waschbecken. »Nein«, antwortete die Figur darin, »das bist du nicht. Wie kommst du auf die Idee? Niemand ist perfekt.«
    »Ach nein? Aber wie die Dinge so laufen, könnte man glauben … alle sind perfekt. Perfektion ist die … die Mindestvoraussetzung für alles und jedes … Ohne müssen wir gar nicht anfangen!«
    »Aber du bist nicht perfekt«, sagte der Spiegel, »auch sonst niemand, das ist gar nicht möglich. Wenn man für zwei Groschen Verstand hat, sieht man es auch ein …«
    »Du hast leicht reden!« Galba begann zu lachen, hielt sich am Rand des Beckens fest. »Aber wo du recht hast, hast du recht!«
    »Wo du recht hast, hast du recht …« wiederholte er mehrere Male mit leiser Stimme, als er ins Büro zurückging. Der graue Bodenbelag schien weicher, seine eigenen Schritte kamen ihm … geschmeidig vor.
    Er fühlte sich besser.
    Das war die große Erkenntnis dieses Tages. Er fühlte sich besser. Diese Sache … nun ja, unangenehm, keine Frage. Und schwierig.

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