Alles Fleisch ist Gras
zum Lachen. Weiß hatte nichts bemerkt, an diesem Abend war alles harmlos geblieben, aber Stadler hatte etwas bemerkt: dass bei der Dame noch viel mehr gehen würde als ein bloßer Flirt. Auf dieser Fähigkeit, die hoffnungslosen von den hoffnungsvollen Fällen zu unterscheiden, beruhte sein Erfolg bei Frauen. Er hätte viel darüber erzählen können. Wenn ihn denn jemand danach gefragt hätte. Das tat aber niemand. Er besaß keine Freunde, die solche Gespräche führen konnten. Er hatte nie darüber nachgedacht, wäre aber dazu fähig gewesen; er hätte sogar ein Buch darüber schreiben können (nein, das dann doch nicht) – aber er hätte einen Wissbegierigen ohne allen Zweifel über vielepraktische Aspekte der Verführung aufklären können. Nun war es dafür zu spät. Denn Ludwig Stadler hatte die Einladung zu diesem seltsamen Treffen angenommen und sich darauf vorbereitet. Mit einem Totschläger und einer Walther 7.65, für die er einen Waffenschein besaß. Er ging damit alle zwei Wochen auf den Schießstand. Er würde sie aber nicht einsetzen, das war noch nie nötig gewesen. Einsetzen würde er mit großer Wahrscheinlichkeit den Totschläger, der ihm auf manchen Baustellen im In- und Ausland schon gute Dienste geleistet hatte. Ludwig Stadler hatte sich vom Hilfsarbeiter zum Polier und Unternehmer emporgearbeitet. Er stammte von unten, das wussten alle; aber kaum jemand wusste, von wie tief unten er diesen Aufstieg geschafft hatte. Er verdankte ihn seiner enormen Intelligenz, die ihn als Genie ausgewiesen hätte, wenn er sie jemals hätte testen lassen. Er lernte schnell und eignete sich Verhaltensweisen höherer Gesellschaftsschichten nicht durch Nachahmung, sondern gleichsam durch Osmose an.
Der zweite Grund seines Aufstiegs war seine Brutalität im geschäftlichen und privaten Bereich. Er wäre der meistgehasste Mann des Landes gewesen, wenn man jemals einen Hassindex erhoben hätte, aber daran hatte nie jemand gedacht, ebenso wenig wie Stadler je daran gedacht hatte, seine Intelligenz zu messen oder sonst eine Aktivität zu setzen, die nicht der Erreichung eines unmittelbaren Zieles diente. Er hätte anderswo Wirtschaftskapitän, Großindustrieller, Parteiführer oder Gewerkschaftsboss werden können, aber in Vorarlberg bestand kein Bedarf an solchen Individuen. Herausragende Fähigkeiten fielen hier infolge einer merkwürdig vergleichmäßigenden Wahrnehmung nicht so auf wie im Rest Europas. So wurde aus Ludwig Stadler, dessen einzige Schwäche, mangelnde Selbsterkenntnis, ihn hinderte, das Land zuverlassen, ein Bauunternehmer mit sehr gutem Geschäftsgang. Alles lief eben eine Nummer kleiner, vielleicht auch zwei oder drei Nummern. Alles lief gröber. Seine Aggressivität hätte ihn befähigt, die mitteleuropäische Bauindustrie in einem Großkonzern zusammenzufassen, aber er nützte sie nur zur handfesten Schlichtung von Auseinandersetzungen auf seinen Baustellen. Und eben jetzt, einem miesen Erpresser eine Lehre zu erteilen. Er würde den Typ zusammenschlagen. Mit System und Liebe zur Sache. Er hatte sich das schon überlegt. Der Typ würde auf dem Boden herumkriechen und darum betteln, endlich die Fotos und die Kamera mit dem Chip abgeben zu dürfen. So würde sich das abspielen.
Es spielte sich nicht so ab.
Als Ludwig Stadler auf den Vorplatz der ARA einbog, erkannte er eine Gestalt hinter dem Gittertor. Dieser Typ versteckte sich nicht einmal. Aber warum stand der hinter dem Zaun, im Inneren der Anlage? Stadler fuhr vor, stieg aus. Die Gestalt öffnete das Tor einen Spalt, ließ ihn eintreten.
»Grüß dich, Ludwig.« Stadler erkannte das Gegenüber und missverstand die Situation.
Er war in Schwierigkeiten.
Aber der Ex seiner Frau wusste davon und würde ihm heraushelfen, Adele zuliebe; sie hatte ihn bekniet. Dass der Polizist immer noch auf Adele stand, war verständlich und nichts Neues, dies kam bei Männern, denen er die Frauen ausgespannt hatte, häufiger vor, als man vermuten sollte; sie gaben ihm die Schuld, um ihre untreuen Frauen zu entlasten, einer von dreien richtete sich die Welt auf so verquere Weise ein – hier musste es etwas Ernstes sein, es beunruhigte ihn, dass Adele von Schwierigkeiten wusste, die ihm selbst noch unbekannt waren … Da hatte einer versucht, über seine Frau an ihn ranzukommen, eine geschäftliche Sache, also ernst, aberGott sei Dank würde ihm Nathanael heraushelfen, aus Solidarität zu seiner Frau, die er immer noch liebte, es war so rührend. Der gute
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