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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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Schwierigkeiten verursachten sie nicht selbst, sie sorgten nur dafür, dass andere ihnen welche machten. Die anderen waren ausnahmslos Männer.
    Weiß setzte sich zu der Frau, sie kamen ins Gespräch, was er beim ersten Blick auf sie befürchtet hatte, bestätigte sie schon mit dem zweiten Satz; sie war Frau Hopfner. Sie trug das Herz auf der Zunge, das war aber eine Ausnahmesituation, weil ihr Gerhard jetzt doch diese »Kur« machte; früher hatte sie geschwiegen, viele Jahre lang. Sie verlor kein böses Wort über ihren Gerhard, aber auch aus den vielen guten Worten wurde klar, dass der liebende Gatte genau das war, was Weiß angenommen hatte, ein Scheusal. Bei Frau Hopfner konnte man gleichsam zwischen den Sätzen hören, so wieman in Briefen zwischen den Zeilen lesen musste, um die Wahrheit zu erfahren.
    Weiß erzählte auch ein wenig von sich, denn die warmherzige Frau Hopfner konnte, auch wenn ihr Herz von Freude über die Kur ihres Gerhard übervoll war, ebendieses Herz nicht anderen Menschen verschließen; wenn sie vor einem saß, fragte sie ihn, wie es ihm gehe, was er mache, wo er zu Hause sei. Weiß erzählte das Nötigste, blieb aber unverbindlich. Das führt zu nichts, dachte er, das gibt nur Probleme. Du kannst nicht die Probleme der ganzen Welt lösen. Aber die der Frau Hopfner schon , sagte eine winzige schrille Stimme in seinem Hinterkopf. Diese Stimme hatte sich früher nur selten gemeldet, seit der Affäre Stadler hörte er sie öfter. Sie hatte an Selbstbewusstsein gewonnen. Er hielt sie für die Stimme seines Gewissens. Sie machte ihm keine Vorhaltungen über Dinge, die er getan hatte, wie das mit den Gewissensstimmen bei vielen Menschen der Fall ist, sondern Vorhaltungen darüber, was er nicht getan hatte – allerdings nicht jene Fälle, die sich für immer erledigt hatten, sondern jene, wo er noch eingreifen konnte. Du trödelst herum, worauf wartest du denn , tönte die Stimme, während sich die Suada der Frau Hopfner in seine Ohren ergoss. Was sie sagte, nahm er auch alles wahr, obwohl es von vorne bis hinten falsch war, kein einziges Wort, das sie von sich gab, entsprach irgendeiner Version von Wahrheit. Wie sich Gerhard zusammennahm und geändert hatte und wie fröhlich er jetzt sei und so weiter. Gerhard hatte sich nicht geändert, nahm sich nicht zusammen und war auch nicht fröhlich. Er spielte das alles nur vor. Darin war er richtig gut, mit fortschreitendem Kurerfolg fiel ihm dieses Vorspielen aber immer schwerer; er fühle sich unruhig, bekannte er, das rutschte ihm so heraus, gleich log er aber dazu, es sei ein Gefühl wie Bäume ausreißen zu können, so voller Energie sei er,daher die Unruhe, bla bla bla … Frau Dr. Jagdmann, eine Blondine mit großer Brille, betrachtete Hopfner durch ebendiese Brille und sagte nichts dazu; Weiß fing einen winzigen Seitenblick von ihr auf. Frau Dr. Jagdmann machte sich Sorgen um Hopfner. Weil er log. Nur warum er log, wusste sie nicht, das wusste Chefinspektor Weiß. Weil Hopfner den inneren Schweinehund kaum mehr im Zaum halten konnte. Die klassische Jekyll-Hyde Konstellation, Mr. Hyde-Hopfner wollte zu seinem Recht kommen, nur das Leiden, das bisher immer der brauchbare Vorwand dafür gewesen war – besserte sich hier mit fortdauernder Kur. Gerhard Hopfner sprach wie kaum ein anderer auf die Therapien an, weshalb Dr. Jekyll-Hopfner nichts anderes übrigblieb als das Rührstück Der freundliche Zeitgenosse , das seit vier Wochen en suite auf dem Spielplan stand, immer weiterzuspielen, obwohl das seine, Dr. Jekyll-Hopfners, Kräfte bald zu übersteigen drohte, worauf Mr. Hyde-Hopfner mit Gewalt ausbrechen würde. Am Abend des Besuchstages war es fast so weit.
    Frau Hopfner hatte sich mit ihrem Mann unterhalten, war dann sogar mit ihm spazieren gegangen und mit gerötetem Gesicht zurückgekehrt, beide lächelten und hätten, wie sie den Aufenthaltsraum betraten, in jeder Filmdokumentation über die familienstabilisierende Wirkung einer richtig angesetzten Kur mitwirken können. Dann fuhr Frau Hopfner zum Bahnhof und Herr Hopfner kehrte in den Alltag der Reha zurück. Nicht ganz.
    Am Abend saß Weiß in seinem Zimmer und las in dem dicken Roman Abendland von Michael Köhlmeier, Adele hatte ihm das Buch mitgegeben. Er konnte sich nicht konzentrieren, denn die Frau Hopfner ging ihm im Kopf herum. Ein dumpfes unangenehmes Gefühl sagte ihm, die Sache sei noch nicht vorbei; die Frau werde in seinem Leben noch eine Rollespielen. Das war eine

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