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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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schon zu Hause getan. Schoder wollte, dassman sich Gedanken machte, und er schätzte es sogar, wenn Aspekte eingebracht wurden, auf die er selber nicht gekommen war. Es war dies eine der unangenehmeren Marotten des Inspektionskommandanten, denn die Bereitschaft, sich über ein polizeifernes Thema Gedanken zu machen, war in der Dienststelle nicht sehr ausgeprägt. Und ja, das muss auch erwähnt werden: Die Themen, die Schoders Aufmerksamkeit fesselten, waren alle polizeifern. Ohne Ausnahme.
    »Lies das über den Speicher Bolgenach«, sagte er zu Weiß an jenem Morgen und hielt ihm die Zeitung hin. »Seite drei. Ich möchte wissen, was du davon hältst.« Weiß nahm die Zeitung entgegen, Schoder ging. Der Artikel auf Seite drei behandelte die Effizienz eines Stausees im Bregenzerwald. An dieser waren Zweifel aufgetaucht – oder doch nicht? Weiß konnte auch nach zweimaliger Lektüre nicht herausbringen, worin jetzt eigentlich der Fehler der Vorarlberger Kraftwerke lag, die vor vielen Jahren beschlossen hatten, die Bolgenach aufzustauen, er war aber unvoreingenommen genug, zuzugeben, dass dieses Unvermögen, den Artikel zu verstehen, auf sein absolutes Desinteresse zurückzuführen war. Von den unendlich vielen Dingen, die ihn nicht interessierten, nahm die Wasserhaltung des Speichers Bolgenach sicher einen der vorderen Plätze ein.
    Weiß versuchte mehrere Male, den tieferen Sinn hinter dem Artikel zu ergründen, dann wandte er sich den anderen Teilen des Blattes zu. Chefinspektor Weiß las die lokale Zeitung nicht deshalb nicht, weil sie so schlecht gewesen wäre; er las auch keine überregionalen Blätter. Er las keine Zeitungen, weil er sich jedes Mal festlas. Er konnte, wenn er erst einmal damit angefangen hatte, nicht aufhören, bis er den letzten Satz des letzten Artikels gelesen hatte, er las alles, auch die Werbung und die Kleinanzeigen. Wäre jedes Wort, das er gelesen, undjedes Bild, das er betrachtet hatte, durch einen Zauber verschwunden, so wäre nach seiner Lektüre nur unbedrucktes Papier übrig geblieben. Das tat er nicht, weil ihn alles Lesbare in der Zeitung interessierte, sondern aus einem Zwang heraus. Wie es Leute gibt, die Dutzende Male zur Haustür zurückkehren, um zu überprüfen, ob sie die auch abgeschlossen haben, war Chefinspektor Weiß gezwungen, eine Zeitung auszulesen, wenn er erst damit angefangen hatte. Der neurotische Zwang beschränkte sich aber auf Zeitungen, mit Büchern, Protokollen, Berichten und allen anderen gedruckten Materien hatte er dieses Problem nicht.
    Es genügte auch nicht, die Texte zu überfliegen, um das Verfahren, das einer erheblichen Zeitverschwendung gleichkam, abzukürzen. Er musste sich alles bewusst machen, geistig erfassen. So konnte es an jenem Vormittag nicht ausbleiben, dass er im Lokalteil auf eine Meldung stieß, die ihn packte und nicht mehr losließ, eine Abgängigkeitsanzeige mit Bild. Eine gewisse Maria H. aus Feldkirch. Er erkannte sie. Auf dem Foto sah sie jünger aus, man hatte in der Familie Hopfner wohl schon länger keine Fotos mehr gemacht.
    Der Text gab nicht viel her. Frau Hopfner hatte vor vier Tagen eine Freundin besuchen wollen, beide Familien wohnten in Gisingen. Dort war sie aber nicht angekommen. Es folgte eine recht wolkige Beschreibung ihrer Kleidung, die sie (vermutlich) getragen hatte. Chefinspektor Weiß las die Zeitung mit wachsender Ungeduld aus, dann rief er bei der Inspektion Feldkirch an. Das Telefonat bestätigte seine Befürchtungen. Der zuständige Chefinspektor Strasser teilte ihm seine Einschätzung der Lage im Hopfner’schen Haushalt mit.
    »Der Hopfner war auf so einer Kur, der hat’s mit dem Rücken, ein trauriger Fall, ich meine, das ist für ihn so etwas wie ein Ausrede … ja, natürlich wieder gewalttätig. Beweisenkann man es nicht, die Frau macht keine Anzeige. Es gibt aber Spuren, du verstehst … ja, hingefallen, eh klar. Eine von den Hinfallenden.« Die Hinfallenden waren im Polizeijargon jene Frauen mit einer geheimnisvollen neurologischen Störung, die sie ständig über Gegenstände stolpern und aufs Gesicht fallen ließ. Auch liefen sie, als würden sie sich dort nicht auskennen, in ihren eigenen Wohnungen gegen offene Türen und schlugen sich die Nase blutig. Diese Symptome verschwanden, wenn es ihnen gelingen sollte, in ein Frauenhaus zu kommen. Kehrten sie zu ihren Männern zurück, kam auch das Hinfallen wieder, das aber niemals etwas mit Epilepsie zu tun hatte.
    Chefinspektor Weiß wusste, was er

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