Alles Fleisch ist Gras
touristischen Infrastruktur ausgegangen werden dürfe. Darauf sagte Weiß wieder dies und das, und Galba antwortete, und sie redeten beide, bis sie wieder bei ihren Autos waren, höchst angeregt, auf die Einwände des anderen eingehend, über eine viertausend Kilometer entfernte Insel, die keiner von beiden je gesehen noch etwas darüber gelesen hatte, ohne dass sie auch nur eine Sekunde das Gefühl hatten, belanglosen Unsinn von sich zu geben. Das hatten sie im Gymnasium schon so gemacht, nicht speziell Galba und Weiß, aber beide in der jeweiligen Clique, und genau dies, dachte Galba später, war der eigentliche Bildungskern des alten Gymnasiums, dieses Reden über alles und nichts, ohne geradezu in reinen Blödsinn abzugleiten; jeder zufällige Zuhörer hätte bestätigt, dass ihr Gespräch höchst interessant gewesen sei. Denn sie redeten nicht nur über Gomera, das beide ganz buchstäblich nur vom Hörensagen kannten, sondern über viele andere Dinge, die sich von Gomera auf natürliche, fast zwangsläufige Art ableiteten: Inseln als Urlaubsziele, Urlaube an sich, verschiedene Vorstellungen und Wünsche, die verschiedene Menschen mit dem Urlaub verbanden, und wie sich diese im Lauf der Zeit gewandelt hätten.
Es war nicht small talk . Es war, wenn es das Wort gäbe, big talk , es war das gebildete Sprechen über Gott und die Welt, auch wenn Gott darin gar nicht vorkam und die Welt nur inwinzigen Ausschnitten. Es war ein gymnasiales Reden über das Ferner-Liegende, dachte Anton Galba. Damit wir nicht über das Naheliegende sprechen müssen. Was mit Hopfner passieren soll und wer und wo und wann und überhaupt … Ihre Professoren hatten so geredet und von ihnen hatten sie es gelernt. Damit nicht darüber gesprochen werden musste, wo Professor Sagmeister 1942 gewesen war. Und was er dort gemacht hatte. Als Sagmeister schon lang in Pension und sehr alt war, ist es dann herausgekommen.
So würde es aber im neuen Jahrtausend nicht laufen, dachte Anton Galba, als er wieder in seinem Auto saß und nach Hause fuhr. Die Kleider fühlten sich immer noch feucht an, der Sitz wurde auch feucht, die Rückenlehne ebenso, aber das machte nichts. Es kam nur darauf an, dass es nicht so lief wie früher. Es würde kein Verschwinden mehr geben. Kein geheimnisvolles, kein plötzliches, kein unerklärliches und so weiter. Überhaupt kein Verschwinden. Dafür würde er sorgen.
5
Gerhard Hopfner hatte nach längerem Sträuben auch den Anschluss ans Internetzeitalter gefunden. Er war in jenem Maße computerisiert, wie es sich für ein Unternehmen seiner Größe in diesem Land gehörte, aber nicht darüber hinaus. Er verwendete den Computer, wie es jeder tat, der sich kein bisschen für dessen Innenleben interessierte. Er ließ das System von einem jungen HTL-Ingenieur warten, dem Sohn eines Schulfreundes. Er kontrollierte jeden Tag die Spamfilter, ob sich darin nicht eine wichtige Nachricht verfangen habe, er machte regelmäßige Updates und so weiter. Über eine Nachricht von Herbert Rosendorfer war er nicht erstaunt, weil er den gleichnamigen Schriftsteller nicht kannte. Gerhard Hopfner las so gut wie gar nichts. Bei der Lektüre des kurzen Schreibens wurde sofort klar, dass Name und Anschrift (Kernstockstraße 33, 6800 Feldkirch) frei erfunden sein mussten, denn Gerhard Hopfner konnte sich nicht vorstellen, dass jemand einen Brief dieses Inhalts mit seinem eigenen Namen unterschreiben würde.
Hallo, Herr Hopfner,
halten Sie sich von dem Polizisten Nathanael Weiß fern!
Er will Sie umbringen.
Unter anderen Umständen hätte Gerhard Hopfner das Ding gelöscht. Ein dummer Scherz, das gab es leider immer wieder. Hoax-Post. Aber der Name Nathanael Weiß war ihm sehr gut bekannt. Viel zu gut, als dass er das, was er da las, als Scherz auffassen konnte.
Es war ihm nie gelungen, den Vorfall in Vigaun zu vergessen. Wie alle Gewalttäter war er es nicht gewohnt, Gewalt zu erfahren, nur, sie auszuüben. Und das tat er nicht aus Sadismus oder sonst einem Psychogrund, sondern weil es nicht anders ging. Er liebte seine Frau, Tatsache, aber manchmal war sie von einer so unverzeihlichen, alles menschliche Maß übersteigenden Blödheit, dass er in Zorn geriet. Ja, er wurde manchmal zornig, sehr zornig. Eh selten. Diese ganzen Psychoonkel und -tanten, die im Fernsehen über häusliche Gewalt laberten, sollten nur einen einzigen Tag, ach was, einen halben! mit seiner Frau verbringen müssen – und nein, nicht mit ihr reden und endlos
Weitere Kostenlose Bücher