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Alles Fleisch ist Gras

Alles Fleisch ist Gras

Titel: Alles Fleisch ist Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Mähr
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um bei jedem, der sich an den Stacheln verletzte, Tetanus hervorzurufen; er hatte nie zu einem Menschen darüber gesprochen.)
    Die Hütte war noch nie von Unbefugten aufgesucht, geschweige denn aufgebrochen worden; die Umstände, bis dorthin vorzudringen, erschienen möglichen Interessenten zu groß, das Häuschen war unter den Weidenästen vom Feldweg aus auch kaum zu sehen und machte von außen mit dem grauschwarz verwitterten Bretterschirm und dem bemoosten Welleternitdach einen heruntergekommenen Eindruck, der kein freundliches Innenleben vermuten ließ. Maria kannte diese Hütte schon seit ihrer Kindheit; sie hatten hier schon in der Volksschulzeit Nachmittage lang gespielt, sie und Maggy, die zu ihrem Leben so lang dazugehörte, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wann sie ihr zum ersten Mal begegnet war. Die Elternhäuser lagen nebeneinander, die Väter waren Kollegen bei der Eisenbahn und Nebenerwerbslandwirte, nur gab es in Maggys Familie noch beträchtlichen Grundbesitz, während dieser in Marias Familie ein Opfer des generationenübergreifenden Alkoholismus bis herunter zu Marias Vater geworden war. Manchmal, wenn sie sich im stadtnahen Ried die Flächen anschaute, die ihrer Familie gehört hatten, konnte sie es selber nicht glauben, wie es möglich gewesen sein sollte, so viele Hektare einfach zu vertrinken; aber unter den Bedingungendes frühen 20. Jahrhunderts ging das eben bei noch so großen sauren Wiesen, während man fünfzig Jahre später ebendies nach der Umwidmung in Bauerwartungsland nicht einmal mit Champagner zustande gebracht hätte, ohne vorher dabei draufzugehen. Sie war aus der Schicht ausgebrochen, hatte, wie sie glaubte, den bäuerlichen Mief und das ganze Elend hinter sich gelassen und diesen bürgerlichen Hausbesitzer und Geschäftsmann geheiratet. Vom Regen unter Umgehung der Traufe direkt in die Jauchegrube.
    Aber jetzt war es anders.
    Die Freundin schenkte Kaffee ein. »Du kannst hierbleiben, so lang du willst«, sagte sie. Gedankenlesen. Maggy konnte Gedanken lesen. Anders war das nicht erklärbar. Maria entspannte sich. Jetzt war sie schon ein paar Tage hier, wie viele genau, wusste sie nicht, sie konnte sich auch das nicht merken. Nicht mehr merken. Sie war nicht direkt von zu Hause zu ihrer Schulfreundin gegangen – vor dieser schon unmessbaren Zahl von Tagen –, sondern erst in den Wald in der Nähe des Hauses ihrer Freundin. Denn sie wusste, die würde ihr nicht helfen können, wenn sie am hellen Tag dort in der Siedlung ankäme, die Leute durften sie nicht sehen. Warum? Darüber dachte sie nicht nach, die Gedanken verwirrten sich dann, sie ließ es bald sein, denn die Ergebnisse weiteren Nachdenkens würden sehr schlimm sein. Also ließ sie das bleiben und saß den ganzen Tag im Wald an den Stamm einer Esche gelehnt und sah den Ameisen auf dem Boden und den Vögeln in den Ästen zu, bis es dunkel war. Dann ging sie zu Maggys Haus. Niemand begegnete ihr. Als sie davor stand, fiel ihr ein, dass Maggy verheiratet war, schon lang, dass sie nicht allein in diesem Haus lebte; sie presste die Hand auf den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken, das ihr aus der Kehle drang. Sie war dumm, so entsetzlich dumm, sie war dümmer als ein kleinesKind ohne Lebenserfahrung; wie hatte sie das den lieben, langen Tag vergessen können? Das war ihr, jetzt in der Nacht, völlig unbegreiflich. Dann tröstete sie sich damit, dass es ihr noch rechtzeitig eingefallen war und sie nicht an der Tür geläutet hatte. Wenn er dann aufgemacht hätte? Grüß Gott, entschuldigen Sie die Störung, ich hätte gern die Maggy gesprochen, ich bin die Maria, eine Schulfreundin . Der hätte gleich die Polizei gerufen, wahrscheinlich schon. Sie ging ums Haus, es war alles in Ordnung, der Garten sehr schön. Kein Mond am Himmel, aber sternklare Nacht, man konnte einiges erkennen, sie fing über dem Anblick des Gartens leise an zu weinen. Maggy kannte sich mit dem Garten aus, alles war an seinem Platz, sauber und gepflegt, ihr eigener Garten war immer nur eine Quelle ständigen Ärgers und schlimmer Auseinandersetzungen. Später erfuhr sie, dass der Garten von Maggys Mann in Ordnung gehalten wurde, von ihm allein; auf die Idee war sie in jener Nacht nicht gekommen.
    Vor der Garage stand ein Auto, das Hebetor war nicht ganz unten, nicht eingerastet. Sie hob es an. Es lief leicht und geräuschlos, klar; in einem Haushalt, dem Maggy vorstand, gab es keine quietschenden Türen oder Garagentore noch sonst die

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