Alles Fleisch ist Gras
gar nichts. Es war ihm unheimlich.
Als er fertig war, sagte sie eine Zeitlang gar nichts. Und sie sprach auch erst wieder, als er ihr sagte, es sei ihm unheimlich. Dass sie nichts sage. Dass sie so kalt bleibe. Sie sagte immer noch nichts. Dann sagte er, dass es ihm unendlich leid tue, ein ganz blöder, an sich unverzeihlicher Fehler und so weiter … Da erst unterbrach sie ihn und sagte: »Das hoffe ich auch, dass es dir leid tut.« Darauf wieder längere Zeit nichts. Sondern er mit seinen schon mehr gemurmelten als gesprochenen Entschuldigungen; er wurde immer leiser und unkonzentrierter. Wenn das ein Stück wäre, dachte er, auf der Bühne, dann könnte man sagen, sie schmeißt die Szene, ja, das könnte man sagen, sie ließ ihn auflaufen. Aber, das spürte er, da war keine Bosheit dahinter, kein Groll, der sich im Schweigen bis zur Explosion aufblähte, sondern eine Art Geistesabwesenheit. Dann schien sie zu merken, dass es langsam auffällig wurde, dass die Leute gleichsam schon auf die Idee kamen, sie hätte den Text vergessen, weil dieses entladene, uninteressierte Schweigen niemandem mehr als Folge des Schocks seiner Eröffnungen verkauft werden konnte – und sie sagte, sie habe es geahnt, aber nicht wahrhaben wollen, natürlich; seine Abwesenheit, eine Frau spüre so etwas … Er hörte nur mit einem Ohr zu, der Text war schlecht, er beobachtete sie, sie redete das Ganze so herunter … irgendwie … wenn es nicht so seltsam klänge im Zusammenhang seines Geständnisses, müsste man sagen: lieblos.
Sie saßen einander im Wohnzimmer gegenüber, die Töchter waren außer Haus. Vor ihnen auf dem Couchtisch Kaffeetassen. Sie hatte Kaffee gemacht. Sie sei verletzt, sagte sie, tief verletzt und wisse nicht, ob jemals … Er nickte. Ja, das war der richtige Text, er kannte das Stück zwar nicht, aber jedermann geht mit einer gewissen Erwartungshaltung ins Theater, einer viel umfassenderen, als ihm vorher bewusst ist. Das Stück Der untreue Ehemann kennen alle Ehemänner mehr oder weniger auswendig, auch wenn sie es, sehr merkwürdig, noch nie gesehen haben. Sie kennen die Abfolge der Akte, die dramatis personae bis in die Nebenrollen und über weite Strecken den Text. Daher können sie auch eine gute von einer schlechten Inszenierung unterscheiden. Auch Anton Galba konnte das. Die gegenwärtige Aufführung war schlecht, die weibliche Hauptrolle indisponiert, das spürte man bis in die letzte Reihe, wo man ihr Gemurmel allerdings nicht mehr verstehen würde.
Sie schien nun auch zu merken, wie verheerend die Performance war und flüchtete sich ins Outrieren. Sie nahm die Wedgewood-Tasse, die vor ihr stand, und holte damit aus, er duckte sich, sie änderte die Wurfrichtung um neunzig Grad und schleuderte die Tasse (sie war leer) an die Wand neben der Wohnzimmertür, wo sie auch mit Effekt zersprang. Das gab der Szene einen komischen Anstrich, dieses Zielen-und-ihn-doch-nicht-treffen-Wollen, das Publikum lachte, Galba hörte es, keine einzelnen Lacher, sondern schon ein saalfüllendes, wohlwollendes Gelächter, die gute Laune kehrte zurück, Der untreue Ehemann wurde hier also doch als Komödie inszeniert und nicht als Regietheaterblödsinn, denn im Grunde, seien wir ehrlich, ist dieses Stück doch eine Komödie, ernst ist das Leben, heiter die Kunst und so weiter …
Dann stürzte sie hinaus; ein Abgang mit Verve ist immer besser als schlechte Schauspielerei. Nach einiger Zeit kam sie zurück, die Augen rot. Sie hatte geweint. Anton Galba war sitzen geblieben, ihr nachzulaufen hätte nichts gebracht. Und die Bühne leer gelassen, das ging nicht. Je mehr er sich und sie wie in einem Stück agieren sah, desto ruhiger wurde er, die Furcht verließ ihn, war ersetzt durch Lampenfieber. Bitte, es läuft doch, sie ist schlecht heute Abend, aber dafür kann er nichts, und er ist gut.
Jetzt hätte sie mit Kehrschaufel und Handbesen die Scherben der Tasse beseitigen sollen und damit einen sicheren Lacher kassieren, das verschenkte sie, mochte begreifen, wer dazu imstande war, er war es nicht, wenn sie so weitermachte, schmiss sie die ganze Aufführung … Er konnte sich nicht wehren gegen diese absurden Theatergedanken, sein Leben lang war er noch auf keiner Bühne gestanden und hatte nie Lust dazu verspürt, was sollte das Pseudotheater? Es war ja pseudo, keine Bühne, kein Stück, keine Rollen, kein fixer Text, sondern das bekannte Wohnzimmer, worin er eben die Affäre mit Helga gestanden hatte. Und die Sache mit
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