Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Alles Glück kommt nie

Titel: Alles Glück kommt nie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
logisch war. Schließlich gewinnen immer die Draufgänger, oder?
     
    Jetzt lebte er schon fast zwanzig Jahre neben ihr, ohne sie gesehen zu haben, warum sollte er sich heute von drei Worten beeindrucken lassen, die nicht einmal den Anstand besessen hatten, sich vorzustellen? Ja, es war zwar Alexis’ Schrift, aber sonst? Wer war schon dieser Alexis?
    Ein Dieb. Ein Typ, der seine Freunde hinterging und seine Geliebte allein und so weit weg wie möglich abtreiben ließ.
    Ein undankbarer Sohn. Ein kleiner Weißer. Ein begabter kleiner Weißer vielleicht, aber wie feige ...
     
    Es ist Jahre her, da hatte er ... Nein, da hatte sie ... Nein, sagen wir besser, da hatte das Leben für sie aufgegeben, als Charles auf schmerzhafte Weise bewusst wurde, wie schwer es ihm fiel, die Pläne jenes Projekts zu lesen, das andere das Leben nannten. Er konnte nicht begreifen, wie es sich auf den Beinen halten konnte, wenn das Fundament so brüchig war, und fragte sich auch, ob er sich nicht von Anfang an geirrt hatte. Er? Ein Haufen Bauschutt? Etwas bauen? Guter Witz. Führte sie hinters Licht, weil er nicht die Wahl hatte, aber mein Gott, wie bescheuert.
    Und eines Morgens dann schüttelte er sich, grunzte, hatte wieder Appetit, Freude an der Freude und Spaß an seinemJob. Er sei jung und begabt, trichterte man ihm ein. Besaß die Schwäche, es noch einmal zu glauben, zwang sich und setzte einen Backstein auf den nächsten, wie die anderen auch.
    Er leugnete die Schwäche. Schlimmer noch, minimierte sie.
    Legte die Latte tiefer.
     
    Das heißt, so hatte er sich alles zurechtgelegt. Bis ihm an einem Sonntagnachmittag bei seinen Eltern eine Zeitschrift in die Hände fiel, die dort herumlag. Er hatte die Seite herausgerissen und im Stehen in der Metro noch einmal gelesen, das Päckchen mit Resten vom Mittagessen unterm Arm.
    Dort stand alles, schwarz auf weiß, zwischen der Werbung für ein Thermalbad und den Leserbriefen.
    Es war eher eine Erleichterung als eine Offenbarung. So hatte er dieses Ding also ausgebildet? Das Syndrom des Phantomglieds? Er war amputiert worden, aber sein kümmerliches Gehirn hatte es nicht kapiert und schickte ihm weiterhin falsche Signale. Und obwohl nichts mehr da war, weil nichts mehr da war, das ließ sich nicht leugnen, hatte er weiterhin ganz reale Empfindungen. »Wärme, Kälte, ein Prickeln, ein Kribbeln, Krämpfe, bisweilen sogar Schmerzen ...«, führte der Artikel aus.
    Ja.
    Genau.
    An all diesen Symptomen litt er.
    Sie ließen sich nur nicht lokalisieren.
     
    Er formte ein Kügelchen daraus, gab den kalten Braten an seinen Mitbewohner weiter, dimmte das Licht und stellte seinen Tisch wieder zurecht. Er war ein rational denkender Kopf, der Demonstrationen brauchte, um weiterzukommen. Diese hier überzeugte und beruhigte ihn.
    Warum sollten sich die Dinge zwanzig Jahre später ändern? Dieses Phantom war etwas, was er liebte, und Phantome, he, sterben nicht ...
     
    Er ertrug also die erwähnte Aufzählung, ohne jedoch richtig darunter zu leiden? Hatte abgenommen? Das war eher positiv. Arbeitete mehr? Keinem Menschen würde der Unterschied auffallen. Hatte wieder angefangen zu rauchen? Er würde auch wieder aufhören. Rempelte Passanten an? Wurde entschuldigt. Laurence verlor den Halt? Jeder ist mal an der Reihe. Mathilde sah sich diese albernen Fernsehserien an? Ihr Problem.
    Es war nichts Schlimmes passiert. Nur ein kräftiger Schlag auf den Amputationsstumpf. Das ging vorbei.
     
    Vielleicht jedenfalls.
    Vielleicht hätte er so weitergelebt, nur etwas entspannter. Vielleicht hätte er die Kommas rausgeschmissen und sich Mühe gegeben, öfter einen neuen Absatz zu beginnen.
    Ja, vielleicht hätte er uns auch wieder mit diesem Quatsch über die Atmung belästigt ...
    Aber er gab am Ende nach.
    Ihren inständigen Bitten, ihrer sanften Erpressung, ihrer inzwischen leicht meckernden Stimme, unter der sich die Telefonleitung wand.
    In Ordnung, hatte er geseufzt, in Ordnung.
    Und war zum Essen zu seinen alten Eltern zurückgekehrt.
     
    Er ignorierte die vollgestellte Konsole und den Spiegel in der Diele, kehrte sich den Rücken zu, als er seine Regenjacke aufhängte, und ging zu ihnen in die Küche.
    Zu dritt waren sie perfekt, kauten lange an jedem Bissen und achteten sehr darauf, das Thema nicht zu streifen, das sie zusammengeführt hatte. Beim Espresso jedoch, im Stil von Ach-wie-dumm-fast-hätte-ich-es-vergessen, wurde Mado schwach und richtete das Wort an ihren Sohn, sah dabei aber an ihm

Weitere Kostenlose Bücher