Alles Glück kommt nie
wieder auf.
*
Es war nicht mehr der Fiat und noch nicht der Millenniumfalke von Han Solo, es musste also in den glücklichen Jahren ihres kleinen roten R5 gewesen sein, ihres ersten Neuwagens, und die Handlung spielt um ihr zehntes Lebensjahr herum, vielleicht auch um ihr elftes. Waren sie schon auf dem Gymnasium? Er konnte sich nicht erinnern. Anouk war anders als sonst. Hatte sich schick gemacht und lachte nicht mehr. Rauchte eine Zigarette nach der anderen, vergaß, die Scheibenwischer auszuschalten, kapierte die Witze über Klein-Fritzchen nicht und wiederholte alle fünf Minuten, dass sie ihr Ehre machen sollten.
Die Jungs antworteten, ja, ja, verstanden aber nicht so recht, was ›Ehre machen‹ heißen sollte, und weil Vater zu Klein-Fritzchen sagt: »Fritzchen, zünde doch bitte den Christbaum an!«, fragt Klein-Fritzchen nach einer Weile: »Vati, die Kerzen auch?«
Sie fuhr mit ihnen zu ihrer Familie, ihren Eltern, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte, und hatte Charles auf dieses Abenteuer mitgenommen. Vermutlich Alexis’ wegen. Um ihn vor dem zu schützen, was sie so nervös machte, und weil sie sich stärker fühlte, wenn sie die Jungs auf dem Rücksitz Zipfelchen, Würstchen und Co. kichern hörte.
»Wenn wir bei Omi sind, hört ihr auf mit Klein-Fritzchen, ja?«
»Ja klaaar ...«
Es war in den Vororten von Rennes, absolute Pampa. Daran konnte Charles sich bestens erinnern. Sie suchte nach dem Weg, fuhr langsam, fluchte, beschwerte sich, dass sie nichts mehr wiedererkannte,und er konnte, wie fünfunddreißig Jahre später in Russland, den Blick nicht von diesen aneinandergereihten Gebäuden nehmen, die er schon damals unendlich trist fand.
Es gab keine Bäume, keine Läden, keinen Himmel, die Fenster waren winzig, die Balkone voller Gerümpel. Er sagte nichts, traute sich nicht, war aber ein bisschen enttäuscht, dass ein Teil von ihr von hier stammte. Sie war doch übers Meer zu ihnen in die Straße gekommen. Auf einer Jakobsmuschel. Wie auf dem Frühlingsbild, das Edith so liebte.
Sie hatte Berge von Geschenken mit, und sie mussten ihre Hemden in die Hosen stecken. Waren auf dem Parkplatz sogar gekämmt worden. In dem Moment kapierten sie, dass ›ihr Ehre machen‹ hieß, anders als sonst zu sein. Plötzlich trauten sie sich nicht mehr, darüber zu streiten, wer auf den Fahrstuhlknopf drücken durfte, und sahen zu, wie sie auf dem Weg nach oben blass wurde.
Sogar ihre Stimme hatte sich verändert. Und als sie ihrer Familie die Geschenke überreichte, stellte die Mutter die Sachen in die Kammer.
Alexis hatte ihr auf dem Rückweg die Frage gestellt: »Warum haben sie die Geschenke denn nicht aufgemacht?«
Sie hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen. »Ich weiß nicht. Vielleicht heben sie sie für Weihnachten auf.«
Der Rest verschwimmt in seiner Erinnerung. Charles weiß noch, dass es viel zu viel zu essen gab und dass er Bauchschmerzen bekam. Dass es komisch roch. Dass sehr laut geredet wurde. Dass der Fernseher die ganze Zeit über lief. Dass Anouk ihrer kleinen Schwester, die schwanger war, Geld gab, auch ihren Brüdern, und ihrem Vater Medikamente. Und dass sich keiner bedankte.
Dass Alexis und er schließlich nach unten gingen, um auf dem Baugrundstück nebenan zu spielen, und dass er, als erohne Alexis nach oben kam, um auf die Toilette zu gehen, die dicke Mutter fragte: »Entschuldigen Sie bitte. Wo ist Anouk?«
»Von wem sprichst du?«, hatte sie böse zurückgegeben.
»Äh, Anouk –«
»Kenn ich nicht.«
Sie hatte sich schimpfend wieder der Spüle zugewandt. Aber Charles hatte richtige Bauchschmerzen. »Die Mama von Alexis ...«
»Ach so! Du meinst Annick?«
Wie gemein es war, dieses freundliche Lächeln.
»Sie heißt Annick, meine Tochter! Eine Anouk gibt es nicht! Eine Anouk gibt’s nur für kleine Pariser wie dich. Wenn sie sich schämt, verstehst du? Aber hier heißt sie Annick, also merk dir das, Freundchen. Und warum zappelst du eigentlich so rum?«
Ihre älteste Tochter kam dazu und zeigte ihm den Ort, den er suchte. Als er wieder herauskam, packte sie ihre Sachen.
»Ich habe mich gar nicht von ihnen verabschiedet«, sagte Alexis beunruhigt.
»Das macht nichts.«
Sie zerzauste ihm die Haare. »Kommt, ihr zwei Prinzen. Wir verduften ...«
Sie wagten erst nichts zu sagen.
»Weinst du?«
»Nein.«
Stille.
Dann rieb sie sich die Nase: »Okay, also – äh – Klein-Fritzchen ist mit seiner Mutter im Kaufhaus und sagt: ›Du
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