Alles Gold Der Erde
Sie saß regungslos da, holte tief Atem und bemühte sich, das rasende Pochen ihres Herzens zu hemmen. Sie versuchte, ihre ineinander verschlungenen Hände zu entkrampfen, ihre steif gewordenen Knie zu bewegen, ihre verkniffenen Lippen zu öffnen. Und innerlich flehte sie: Singt weiter! Singt doch weiter! Laßt mir noch ein wenig Zeit!
Und die Männer sangen. Kendra wußte nicht, wie lange sie sangen. Sie vernahm den Beifall. Sie klatschte ebenfalls in die Hände. Sie hörte, wie die Leute sich bei den Musikanten bedankten, und schließlich begriff sie, daß dieses Hauskonzert zu Ende war. Mr. Chase sprach sie an: »Und nun, Ma'am, ein Gläschen Sherry? Echten spanischen Sherry, der lange unterwegs war.«
Kendra nahm den Wein. Zu ihrer eigenen Überraschung brachte sie es fertig, zu danken, und einen Augenblick darauf hörte sie sich sagen: »Der Wein schmeckt herrlich, Mr. Chase.«
Mrs. Chase reichte Kekse und Käse, Oliven, Nüsse und Gebäck herum. Kendra aß ein paar Bissen. Sie dachte immerzu: Nichts währt ewig. Es dauert nicht mehr lange, und ich verschwinde von hier. Ich werde dann allein sein. Gott sei Dank, daß ich allein sein werde. Loren darf das niemals erfahren. Bitte, bitte, ich muß das überwinden … eines Tages … irgendwie.
Schließlich wurde es Zeit zum Abschiednehmen. Man bedankte sich bei den Gastgebern für den angenehmen Abend. Auch Kendra sprach die üblichen Phrasen. Und schon war sie mit Ralph und Serena auf dem Heimweg. Kendra stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Im Kamin leuchtete noch ein wenig Glut. Es gab nun reichlich Brennmaterial, denn ein Schiff, das Kohlen geladen hatte, war eingelaufen, und Loren hatte einen Vorrat angelegt, der für den ganzen Winter ausreichen würde. Kendra legte Kohlen auf und sah den kleinen Flammen zu, die über die Glut tanzten. Sie hörte, daß Ralph die Haustür abschloß und dann in sein Schlafzimmer ging. Sie zog sich aus, war aber noch nicht schläfrig. Nie war sie wacher gewesen als jetzt. Sie zündete eine Kerze an, warf einen Morgenmantel um und setzte sich vor das Feuer. Die Flammen prasselten. Draußen erhob sich ein Sturm. Kendra stützte den Kopf in die Hände und vergaß das Feuer, den Sturm und alle andern Geräusche im Haus und im Freien: Sie vergaß alles über ihren Träumen von Ted und dem Glück, das er ihr für so kurze Zeit geschenkt hatte.
Weshalb kann ich nicht weinen? fragte sie sich.
Das Weinen hätte so vieles leichter gemacht. Sie mußte etwas tun, irgend etwas, nur nicht hier sitzen bleiben und den Erinnerungen nachhängen, während ihr das Herz in der Brust hämmerte und sie mit beiden Händen ihre klopfenden Schläfen hielt. Ihr war, als wäre sie in lauter kleine Stücke zerrissen, und all diese Stücke schmerzten, weil Ted ihr fehlte – weil er ihr so fehlte, wie ihr noch kein Mensch gefehlt hatte. Sie sehnte sich nach ihm, wie sie sich noch nie nach etwas gesehnt hatte. Ein Pochen an der Tür. Kendra fuhr auf. Es pochte nochmals, und sie hörte Serenas Stimme: »Mrs. Shields?«
Warum muß sie mich denn ausgerechnet jetzt stören? dachte Kendra und trat zur Tür, die sie mit Mühe öffnete. Serena hatte einen Wollumhang übergeworfen. In ihrem rosigen unschuldigen Gesicht erschien ein Lächeln, das um Entschuldigung bat.
»Es tut mir leid, daß ich Sie belästigen muß, Mrs. Shields, aber ich habe mir gedacht, die Sache könnte wichtig sein. Ich habe einen Brief für Sie.«
Kendra hörte mit gekrauster Stirn zu. »Einen Brief?«
Serena streckte ihr ein zusammengefaltetes, mit Wachs versiegeltes Papier entgegen. »Ein Fremder hat an der Haustür geklopft und Ralph das da gegeben. Er sollte es Ihnen bringen.«
Kendra glaubte, Keulenschläge sausten auf ihren Kopf herab. Sie nahm den Brief und bedankte sich. Serena ging wieder die Treppe hinab. Kendra schloß die Tür und kehrte zu ihrem Stuhl am Feuer zurück. Dann erbrach sie das Siegel und schlug das Papier auseinander. Als sie die Schrift sah, fingen ihre Hände derart zu zittern an, daß der Bogen raschelte. Die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Erst nach einigen Sekunden war ihr Blick so fest, daß sie lesen konnte:
»Meine liebe Kendra,
heute abend habe ich dieses Lied wieder gehört. Die Liebe ist eine Libelle. Wenn Du nicht weißt, was es in mir ausgelöst hat – aber natürlich weißt Du das.
Ich bin gestern auf dem Schoner von Sacramento heruntergekommen. Ich wollte das nächste Schiff nach Honolulu nehmen. Ich hatte nicht die Absicht,
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