Alles Gold Der Erde
verhüten. Aber jeder Alarm ließ Marny daran denken, daß eines Tages diese Männer nicht zur rechten Zeit eintreffen könnten.
Sie war nicht der einzige Mensch in San Francisco, der außer sich vor Zorn und Angst war. Die Kriminalität nahm zu. Immer mehr Einwanderer kamen in die Stadt. Nicht wenige von ihnen hatten keine andern Absichten, als Hand an alles Greifbare zu legen. Keine Nacht verging, in der nicht Bürger auf unbeleuchteten Straßen niedergeschlagen und beraubt wurden. Die Zeitungen machten sich gar nicht erst die Mühe, alle Morde zu registrieren. Und was das schlimmste war: Die Behörden taten kaum etwas, um die Verhältnisse zu ändern.
Es gab tausend Gerüchte um die Frage, weshalb nicht endlich etwas geschehe. An Marnys Bar, in Hirams Bank und in Pockets Buchhandlung sprachen die Leute von Bestechung und Korruption. Immer häufiger wurde die Forderung erhoben, man müsse das Recht nun in die eigenen Hände nehmen. Alle fingen mit der frommen Beteuerung an: »Ich halte ja nichts von der Lynchjustiz, aber …«
Die sichersten Straßen waren die an der Plaza gelegenen, weil aus den Vergnügungsstätten das Licht hell ins Freie fiel. Die am wenigsten gefährdeten Menschen waren nun plötzlich die Frauen ob ihres Seltenheitswertes. Selbst auf schlecht beleuchteten Straßen wurde ein Mann, der eine Frau bei sich hatte, nur selten angefallen.
»Hier steht alles auf dem Kopf«, meinte Marny. »Die ordentlichsten Viertel sind die der Spieler und Nutten. Wenn ein Mann durch eine dunkle Gasse gehen muß, bleibt ihm keine andere Wahl, als eine Hure anzuheuern, die ihn beschützt. Hat es denn so was je auf der Welt gegeben?«
Noch immer ergoß sich ein wahrer Goldstrom aus den Minen. Viel davon wurde auf den Dampfern abtransportiert, ein großer Teil landete in der Kearny Street. Das Einkassieren von Geld strengte Marny durchaus nicht an. Und wenn sie sich einmal beunruhigt fühlte, brauchte sie bloß auf den Balkon zu gehen und sich das Schauspiel zu betrachten, das immerzu auf der Plaza geboten wurde.
Die Leute von San Francisco liebten das Feiern. Der Jahrestag einer Schlacht, der Geburtstag eines Helden, eine aufregende Neuigkeit – bei all solchen Anlässen stürmte man mit Musikkapellen zur Plaza. An dem Tag, da ein Dampfer die Nachricht überbrachte, Kalifornien sei jetzt ein Staat der Union, läutete man die Glocken, blies Hörner, veranstaltete eine Parade und knallte derart wild mit Pistolen, daß ein Uneingeweihter glauben mußte, hier tobe ein Krieg.
Die Aufnahme in den nordamerikanischen Staatenbund war von Bedeutung. Bislang hatten sich die Leute wie Menschen im Exil gefühlt. Nun aber war dieses Land Kalifornien ein Teil ihrer Heimat. Sie ärgerten sich über jeden, der nicht einsehen wollte, wie bedeutsam dieses Ereignis war. An Marnys Bar sagte ein harmloser Fremder zu Hiram, das New Union Hotel könne es mit den besten Hotels in den Staaten aufnehmen. Darauf hatte Hiram und drei andere Männer wie auf Kommando gerufen: »Sir, wir sind hier in den Staaten!«
Dwight stellte Pockets Neubau fertig. Die Leseräume befanden sich vorn, in den Hinterstuben wohnten Pocket und sein Partner, Mr. Gilmore. Während Pocket mit seinem kleinen Zimmer ganz zufrieden war, handelte Hiram nun anders. Er war in das neue Union Hotel gezogen, das beste in San Francisco, das im selben Block stand wie der Calico-Palast. Daneben war das Parker House. Dort hatte ein Regisseur aus New York eine ganze Etage gemietet und in ein Theater verwandelt, das sich den Namen der berühmten Sängerin Jenny Lind zulegte. Der Regisseur engagierte erstklassige Schauspieler, und seine Inszenierungen waren in der Tat gut. Mittlerweile lebten in San Francisco viele Menschen aus allen Großstädten der Welt; sie waren nicht so ohne weiteres zufriedenzustellen. Das Dramatic Museum gefiel ihnen, aber dort wurden meist nur Possen und Gesangs- oder Tanzeinlagen aufgeführt. Die Schauspieler im Jenny-Lind-Theater hingegeben boten richtige Theaterstücke.
Marny ging oft mit Carson hin. Sie erzählte, die Aufführungen seien nicht nur gut, sondern der Manager sei überdies ein netter Bursche. Er hatte einen originellen Einfall gehabt: Sein Theater besaß zwei Eingänge. Der eine führte durch die Bar, der andere direkt in den Zuschauerraum. Zum erstenmal konnten die Leute nun in San Francisco eine Unterhaltungsstätte aufsuchen, ohne zuvor eine Bar passieren zu müssen. Sie selber hatte allerdings nicht das geringste gegen einen
Weitere Kostenlose Bücher