Alles Gold Der Erde
hatte Geraldine sich versteckt und konnte dieses Versteck nicht mehr verlassen. Marny und Kendra sahen sich beinahe die Augen aus dem Kopf. Geraldine war nicht zu entdecken. Nachts lauschten sie an der Tür, durch die das Kätzchen damals gekommen war. Doch Nacht für Nacht hörten sie nur das Rauschen des Windes, zuweilen einen Regenschauer und die Schritte eines Nachtschwärmers, der sich nach Hause trollte.
»Sie ist verloren«, meinte Marny schließlich.
»Wir können ja jederzeit eine andere Katze aufnehmen«, erwiderte Kendra, »aber …«
Sie hielt inne, und Marny sprach den Satz zu Ende:
»… aber es wäre nicht dieselbe Katze. Es wäre nicht Geraldine.«
Kendra blickte auf die Uhr. Es ging auf Mittenacht zu, und sie war müde. »Vielleicht sollten wir Geraldine vergessen.«
»Ich wünschte, ich könnte das«, versetzte Marny. »Verdammte Katzen! Ich will nie wieder eine Katze sehen. Solange ich lebe, werde ich nie wieder eine Katze ins Haus nehmen. Wenn mir einer gesagt hätte … Kendra! Was ist das?«
Kendra war zusammengefahren. »Pst! Ich habe etwas gehört.«
Jetzt hörte es auch Marny – das Miauen einer Katze vor der Küchentür. Marny setzte ihre Tasse so heftig ab, daß die Schokolade in die Untertasse spritze. Kendra riß die Tür auf.
In die Küche kam Geraldine hereinspaziert. Sie kam so ruhig herein und sah die Frauen mit soviel Selbstsicherheit an, als wolle sie nichts anderes sagen als: »Ich habe Hunger, ihr werdet doch bestimmt etwas für mich tun.«
Kendra griff nach ihr. Marny starrte sie an. »Du verdammtes Biest! Ich würde dich am liebsten an der Plaza aufhängen.«
Geraldine war dünner geworden, und ihr Fell war verschmutzt, nirgendwo aber ließ sich eine Verletzung finden. Die große Vordertür schwang ständig auf und zu, wenn Gäste kamen und gingen. Katzen verstanden es stets, an den Beinen der Leute vorbeizuhuschen. Aber wo mochte sie die ganze Zeit über gewesen sein? Und wie war sie den Menschenmassen, den Rädern, den Hufen heil entronnen?
»Das werde ich nie erfahren«, meinte Kendra.
»Habe ich dir nicht erzählt, daß Geraldine eine Hexe war? Im Mittelalter gab es Leute, die behaupteten, alle Katzen seinen Hexen. Vielleicht hatten sie recht.«
Einige Abende darauf kam Dr. Wardlaw in Marnys Spielsalon, und sie befragte ihn über Geraldine. Er nahm die Katze in die Hände, lächelte und nickte. »Ja, nun hat sie ihre Jungfräulichkeit (wenn man es so ausdrücken darf) verloren. Ende Februar ist sie davongelaufen. Der Nachwuchs wird sich Ende April einstellen.«
An diesem Abend vernahm Marny, als sie nach Hause kam, auf der vierten Etage Schritte. Marny hob ihren Leuchter. Norman lief dort herum. Als er Marny sah, kam er ihr entgegen. Sein Gesicht war verzerrt und blaß. Das Haar hing ihm unordentlich in die Stirn, und sein Kragen hatte sich verschoben.
»Marny!« rief er fast keuchend. »Ich habe schon geglaubt, du kommst überhaupt nicht mehr. Marny, sag mir doch, was los ist!«
»Was los ist?« fragte sie benommen.
Norman packte sie bei der Schulter. »Marny, was ist mit Hortensia los?« Er schnaufte. »Marny, sie hat mir einen Korb gegeben.«
59
Marny hatte beinahe Normans Heiratspläne vergessen. Jetzt fiel ihr ein, daß Hortensia an diesem Abend ausgegangen war. Jeder Angestellte des Calico-Palastes hatte einen freien Tag, und von Hortensia war Marny heute daran erinnert worden, daß sie an der Reihe sei. »Mr. Devore wird Klavier spielen«, hatte sie gesagt. »Ich gehe ins Theater.« Von wem sie sich begleiten lassen würde, hatte sie nicht erzählt. Marny war auch gar nicht aufgefallen, daß Norman nicht im Hause war. Nun schien es so, als hätten die beiden den Abend gemeinsam verbracht. Offenbar hatte er sie um ihre Hand gebeten und war zurückgewiesen worden. Norman war schockiert.
Wieder setzten sie sich auf die Stufe. Fast stammelnd berichtete er, was geschehen war. Er konnte es selber kaum fassen. Nie zuvor hatte er eine Frau gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Nachdem er sich zu diesem bedeutsamen Unterfangen durchgerungen, hatte er beschlossen, daraus ein denkwürdiges Ereignis zu machen.
Er war nicht ungeduldig geworden. Er hatte gewartet, bis eine gute Komödie im Jenny-Lind-Theater aufgeführt wurde. Norman schätzte ernste Stücke ebensowenig wie Hortensia; beide zogen Lustspiele vor. Als er Hortensia gefragt hatte, ob sie mit ihm kommen wolle, war sie mit Freuden dazu bereit gewesen. Wie sie sagte, besaß sie ein neues Kleid,
Weitere Kostenlose Bücher