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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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immer rief ich Johannes; ich brüllte, bis meine Kehle sich weigerte, den geringsten Laut, ja auch nur das geringste Röcheln von sich zu geben. Ich stand mit dem Rücken gegen die Hütte, von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet, und mehrmals glitt mir die Pistole aus der Hand. Ich hob sie wieder auf, aber schließlich ließ ich sie auf dem Boden liegen, außerstande, sie zu halten. Ich fühlte, dass sie nutzlos war.
    Ich stand wie benommen da, als ein fast unmerklicher, sanfter Duft hergeweht kam, wie um mich zu trösten. Ich vermutete, dass mein Schweiß
«ihren»Duft wieder belebte auf dem Ärmel des Uniformrocks, auf den sie im dunklen Kinosaal an meiner Schulter geweint hatte. Es war ein lieblicher, ferner Duft, vielleicht nach Alpenveilchen, obwohl ich den Duft dieser Blume eigentlich nicht so genau kenne. Doch er war von einer solchen Lieblichkeit, dass die erste Vorstellung, mit der ich ihn in Verbindung bringen konnte, diejenige eines Alpenveilchens war, eines zarten Alpenveilchen-Bouquets. Aber er kam von weit her, und ich fragte mich, ob das Tal unter all seinen anderen Überraschungen nicht auch eine Kultur dieser zarten Blumen hütete. Ich roch am Uniformrock, doch er war nicht der Ursprung des Duftes. Ich erinnerte mich nicht, ob«sie»ein solches Parfum verwendete, so kindlich und beinahe unmerklich. Immerhin, der Duft machte mir wieder Mut, da er mich dazu bewegte, an die Jahre meiner Kindheit zurückzudenken. Wo hatte ich diesen Duft nur gerochen? Es war nicht dieser abscheuliche Hauch, der mich bei anderer Gelegenheit verwirrt hatte, nun aber nicht mehr gekommen war, mich zu belästigen. Nein, dieser war lieblich und unfassbar, selbst wenn ich seine Ursache im nicht eingenommenen Abendessen suchen musste.
    Recht bald verflog der Duft, und ich blieb allein. Ich fürchtete, ich würde Angst haben; aber
wovor sollte ich Angst haben?«Es ist kein Grund vorhanden, Angst zu haben», sagte ich mir immer wieder. Ich starrte ins Dunkel, und ich sah nichts: Also brauchte ich auch keine Angst zu haben. Es war rein gar nichts zu sehen, auch nicht der leiseste Schatten, und nicht einmal die Wipfel der Bäume hoben sich gegen das Himmelsgewölbe ab, die Finsternis war vollkommen und gleichmäßig. Fast war es, als hätte ich mir die Augen verbunden, wenn meine Augen nicht eine Tiefe in dieser Finsternis wahrgenommen hätten. Und ich hörte nicht das geringste Geräusch, nicht einmal das Nagen einer Maus oder das Seufzen eines Maulwurfs. In dieser Nacht schrien auch die Schakale nicht, und das Lachen der Hyänen ließ auf sich warten.
    «Ist das möglich?», fragte ich mich.«Gibt es keine Leichen mehr in diesem Tal, und an ihrer Stelle blühen hier Alpenveilchen?»Auch die Vögel schliefen, keiner von ihnen schimpfte oder schluchzte; nicht einmal das Ticken der Uhr unterbrach die Stille. Ich zog sie auf. Sicherlich war ein Sandkörnchen ins Räderwerk geraten, deshalb lief es nicht. Ich starrte auf die Holzscheite im Feuer, doch die Dunkelheit ringsumher war übermächtig, und ich hätte mich nicht von der Hütte entfernen können, falls es mir überhaupt gelungen wäre aufzustehen; ich hatte das Gefühl,
als stoße die Lichtung mich zurück. Da versuchte ich über diese Angst zu lachen; ich nahm einen Zweig und fing an, ihn im Rhythmus gegen die Hütte zu schlagen, und dabei sang ich. Dann sagte ich mit lauter Stimme etwas auf, das ich in den ersten Schuljahren gelernt hatte, ein französisches Gedichtchen, dessen erster Vers hieß:« Une montre à moi? Quel bonheur! » 15 Ich wunderte mich, dass ich es noch wusste, und sagte es immer von vorne auf, so lange, bis mir die Verse bedeutungslos erschienen; doch es war mir gelungen, mich zu beruhigen, und ich zitterte nicht mehr. Die ganze Nacht hindurch wiederholte ich dieses Gedicht, und erst in der Morgendämmerung merkte ich, dass ich Fieber hatte und vielleicht phantasierte. Unnütz, daran zu denken, sich auf den Weg zu machen. Der Tornister war schon gepackt, aber ich wäre nicht einmal fähig gewesen, ihn hochzuheben. Ich verfluchte meine Angst, jetzt da die Schatten verschwanden und die Lichtung wieder zum Vorschein kam, und ich verfluchte Johannes. Ich war gerade dabei, ihn zu verfluchen, als ich ihn auf dem Rücken des Maultiers daherkommen sah, und zwar auf dem Pfad, der zum Nebenfluss führt. Ich konnte mich nicht bezähmen; ich lief ihm entgegen und sah, dass er eine Zigarette rauchte.
    Ich war so bestürzt darüber, dass ich keine Fragen
stellte. Auch

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