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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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spürte, und ich musste sie wieder in die Tasche stecken, damit er die Strecke nicht sah, die ich schon eingezeichnet hatte von hier bis nach Massaua. Aber vielleicht konnte er Karten nicht lesen und sich auch nicht vorstellen, dass diese blauen und bräunlichen Flecken Meer und Land bedeuten sollten, sein Land. Er schien sehr erfreut zu sein und fing an, mir alles zu sagen, was er über das Tiefland wusste, wie er es schon in den ersten Tagen getan hatte. Mit den Fingern an seine Nase tippend, zählte er die fünf Punkte auf, an denen ich Wasser finden würde, falls ich mich entschließen sollte, den Fluss zu verlassen. Er wiederholte die Namen der Orte, die alle mit dem Wort mai begannen (jeder Tümpel oder jede Quelle wird dort unten mit diesem Wort bezeichnet, das«Wasser»bedeutet), und er schien sich nicht zufriedenzugeben, solange ich sie nicht in mein Notizbuch eingetragen hatte.
Er sagte mir diese Namen immer wieder vor und wollte, dass ich sie zusammen mit ihm wiederhole. Und schließlich, um sich zu vergewissern, dass ich sie behalten hatte, begann er mich abzufragen. Und er sagte: «Mai…?» und beharrte so lange darauf, bis ich den Namen der Ortschaft richtig aussprach. Unversehens schloss er:«Gute Reise.»Er sagte es ohne Ironie, denn die war ihm unbekannt, und entfernte sich, als ginge ich in diesem selben Augenblick fort.
    Gleich darauf wurde Johannes wieder der unleidliche Alte, den ich in den ersten Tagen kennengelernt hatte. Nachdem erledigt war, was er für seine Pflicht hielt, nämlich dem Wanderer den Weg zu weisen, wollte er mir zeigen, dass er die vergangene Nacht nicht vergessen hatte. Jetzt zum Beispiel ging er brummend auf der Lichtung hin und her, und mit zu Boden gerichteten Augen suchte er irgendetwas, den Zweig, den ich gegen meine Stiefel geschlagen hatte. Als er ihn gefunden hatte, hob er ihn auf und zerbrach ihn ostentativ; dann warf er ihn ins Feuer, hörte aber nicht auf zu brummen. Diese kindliche Gebärde brachte mich zum Lachen, und ich dachte:«Johannes’ Zorn währt so kurz wie die Zeit, die ihm noch zu leben bleibt. Wenn er nicht auf solche lächerlichen Proteste verzichten kann, bedeutet es, dass er ein schwaches Wesen ist. Besser so;
indem er diesen Zweig zerbrach, hat er seinen ganzen Groll besänftigt, wie ein Kind, das die Tischkante haut, an der es sich den Kopf gestoßen hat. Jetzt kommt er sich wie ein Sieger vor; diese Illusion wird ihn den ganzen Tag lang erträglich machen, diese letzten Stunden unseres gemeinsamen Lebens.»
    Und doch, während ich mir dies alles sagte, fühlte ich, dass Johannes zur ausgeklügeltsten Rache fähig war; die Härte dieser Augen deutete mir an, dass seine harmlosen Anwandlungen nur ein hinterhältiges Manöver verbergen sollten. Ich rief ihn, und er blieb stehen und blickte mich argwöhnisch an; als er sah, dass ich lächelte, kam er schüchtern näher.«Johannes», sagte ich,«morgen früh verlasse ich das Dorf, doch vorher will ich dir danken, und ich glaube, du wirst dies annehmen. »Während ich es sagte, reichte ich ihm eine Banknote.
    Er starrte sie entgeistert an, es war vielleicht der größte Betrag, den er je zu sehen bekommen hatte, und er wich erschrocken zurück. Ich musste ihm den Schein zwischen die Finger stecken, aber Johannes schaute mich nur an, außerstande ihn festzuhalten, und gleich darauf fiel der Schein zu Boden. Ich lachte, hob ihn auf und reichte ihn Johannes noch einmal. Doch nun schüttelte er den Kopf und hielt mir den Schein hin wie jemand,
der den Lohn für Verrat oder Verschwiegenheit zurückweist. Ich sah, wie erregt er war, vielleicht verwirrt vom Blendwerk dieses Besitzes, aber er konnte ihn nicht annehmen, er würde es niemals wagen. Er benutzte mein Erstaunen, um sich eilig davonzumachen und sich in seiner Hütte zu verstecken, aus der er nur hervorkam, um sich seine Mahlzeit zu kochen.
    Diesmal sah er finsterer aus als gewöhnlich; er warf mir Blicke zu, die von einem so tiefen Hass erfüllt waren, dass ich mich immer mehr darauf freute, ihn zu verlassen. Vergebens suchte ich mir die Gründe seiner Ablehnung zu erklären, bis ich mir sagte, ich müsse sie im Grabhügel auf der Lichtung suchen, das heißt in der Tatsache, dass ich mit denen verbündet war, die dazu beigetragen hatten, ihn anzufüllen. Ja, seine Blicke waren genauso wie damals, als ich ihn beim Zuschütten der Gräber angetroffen hatte.«Er hat nicht vergessen», sagte ich,«und er wird niemals vergessen. Es ist eine Zumutung

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