Alles hat seine Zeit
schrie ich.«Wenn ich dich noch einmal sehe, lasse ich dich einsperren.»
Das Kind wunderte sich darüber, dann lächelte es und machte eine Bewegung, als wolle es meine Hand berühren. Gewiss war es ein Scherz, wollte es sagen, gewiss scherzte ich nur! Es nahm meine Hand und legte sie sich auf den Kopf, zum Zeichen seiner Ergebenheit, wie um zu bedeuten, dass ich jede Macht über es habe. Diese vertrauensvolle Gebärde entfachte schließlich meine ganze Wut. Aufgebracht stieß ich Elias zu Boden, hinaus aus dem Zelt, und befahl ihm wegzugehen. Der Kleine fiel hin und sah mich an, noch immer lächelnd, noch immer im Glauben, der Scherz gehe weiter. Dann sah ich, dass seine Lippen zitterten, die ganze Welt stürzte ihm zusammen, er begriff nichts mehr und brach in Tränen aus; doch mein Brüllen brachte ihn zum Schweigen. Er stand auf und schickte sich an, zur Straße zu gehen. Ich rannte aus dem Zelt, ich rief ihn:«Komm sofort her!»
Er kehrte um, als wäre nichts geschehen; er zitterte leicht, weil er durchnässt war, vermute ich, aber seine Lippen fanden ihr Lächeln nicht wieder. Ich wies auf die Kiste (ich musste«ihr»Bild
wegstellen), und Elias setzte sich zerknirscht hin und versuchte zu begreifen.
Ich wollte, dass er von seinem Dorf erzähle, aber er wusste nicht, was er mir sagen sollte, vielleicht hatte er es vergessen. Er schaute mich nur an, unfähig, das Zittern seiner Knie zu bezwingen.«Was machtest du den ganzen Tag?», fragte ich.
Er schlug die Augen nieder und antwortete mit einer Gebärde, die«Nichts»bedeuten oder vielleicht auch nur die Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen ausdrücken sollte, die er damals getan hatte und die ihm jetzt geringfügig erschienen.
«Spieltest du nicht, gingst du nicht baden im Fluss?»
«Ja», und er lächelte glücklich, doch sogleich wurde er wieder ernst und senkte den Kopf.
«Allein?», fragte ich.
«Nein, mit allen.»Warum wollte ich diese Erinnerung noch grausamer machen, warum wollte ich alles von ihr wissen? Obschon ich doch fühlte, dass ich vor ihr zurückschreckte, und mir sagte, das Tal behüte das Geheimnis so gut, dass ich es von nun an vergessen durfte. Sie gehörte nicht mehr mir, sondern der Erde, einer Erde, die ich in ein oder zwei Monaten für immer verlassen würde. Ich konnte mir auch einreden, dass ich nichts getan hätte, was über die Gesetze dieser Natur
hinausging: Vielleicht würde ich mit der Zeit sogar glauben, sie gar nicht getötet zu haben, und schon wurde es mir schwer, mich an das Geschehen zu erinnern, oder ich sah alles wieder vor mir wie durch die Erzählung eines anderen. Es war ein wahrhaft verwirrender Vorgang, und wäre Elias nicht gewesen, hätte ich mich nicht an die Farbe ihrer Augen erinnern können. Langsam fragte ich das Kind, wen es am liebsten gehabt habe aus dem Dorf, aber es gab keine Antwort, das Wort kam ihm neu vor, und ich konnte es nicht übersetzen.«Mit wem mochtest du am liebsten zusammen sein?»
Noch einmal breitete Elias die Arme aus, um mir zu bedeuten: mit allen. Oder mit niemandem. Als ich ihn fragte, ob Mariam zum Fluss ging, lachte er kopfschüttelnd und fügte hinzu:«Sie hatte Angst.»
«Wovor hatte sie Angst?»
«Harghez» , und er sprach dieses Wort rasch aus, mit Abscheu und Entsetzen, aber er lachte dabei. Ich fragte ihn, ob auch er Angst habe. Er nickte heftig mit dem Kopf und gab es zu:«Ja!»
«Willst du jetzt schlafen?»Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm ich eine Zeltbahn und befestigte sie so, dass sie die Stelle schützte, wo Elias sich zuvor hingekauert hatte. Dann nahm ich eine zweite Zeltbahn und warf sie auf den feuchten
Boden, darüber legte ich eine Decke.«Du schläfst hier», sagte ich.
Elias kroch in seinen Sack, grüßte und kuschelte sich hin. Ein paar Minuten später war sein Atem das Einzige, was ich hörte, geradeso wie der zum Tode Verurteilte von allen Geräuschen des Kerkers einzig die Uhr hört, die in der Tasche des Beichtvaters tickt.
Ich war so verärgert über mich selbst (ich hatte diese dumme Fessel wieder zusammengeknüpft), dass ich die Kiste mit einem Fußtritt in die Ecke stieß.
Bei Tagesanbruch war Elias verschwunden. Er hatte die Zeltbahn und die Decke zusammengerollt, wie es die Soldaten tun, und war fortgegangen. Ich wunderte mich darüber, ja, ich fürchtete sogar, hinter dieser Flucht verberge das Kind irgendeinen Plan, um mein Mitleid zu erregen und sich noch fester an mich zu binden. Ich fragte nach Elias, niemand hatte ihn gesehen.
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