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Alles hat seine Zeit

Titel: Alles hat seine Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ennio Flaiano
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gab,«sie leben hier, da sie ja den Trübsinn des Sparens nicht kennen.»
    Ich begann mich elend zu fühlen, vielleicht war es die Melancholie des Abends, und ich fragte:«Leben sie von Almosen?», aber ich kannte die Antwort. Und ich betrachtete die Baracken, betrachtete diese Menschen, die wie Tiere zu einem Haufen zusammengekauert und in ihre verzweifelte Trägheit versunken waren.
    «Gewiss», wiederholte der Major. Der Leutnant fügte hinzu:«Die Armut kennt offensichtlich keine Grenzen. Ein Volk von Bettlern, das seinen Armen Almosen gibt.»Er lachte. Ich wollte gehen, doch es zog mich unwiderstehlich zu diesen Baracken; allerdings wollte ich mich auch nicht von den beiden Offizieren absondern, die mir in diesem Augenblick die Gewissheit eines brüderlichen Schutzes boten. Als ich sah, dass sie weitergingen, lief ich ihnen nach, aber ich hörte ihre Gespräche nicht, die nur undeutlich zu mir drangen. Eine niederträchtige Neugier zog mich zur Pforte hin, und der Platz kam mir sehr viel weitläufiger vor. Was sagten die beiden Offiziere, warum lachten sie, über wen lachten sie? Auch ich wollte daran teilnehmen, mich lebendig fühlen mit ihnen, mein Dasein bestätigen.«Sie lassen mich zurück», dachte ich. Was sagten sie?

    Sie verabschiedeten sich nur. Der Major entfernte sich, und ich sah ihn auf ein Lastauto steigen, das in diesem Augenblick vor seiner Baracke anhielt. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu ihm zu laufen, nicht zu diesem Mann mit dem freundlichen Gesicht hinzulaufen, auch wenn dieses Gesicht von Hintergedanken getrübt war, die mir entgingen oder die ich nicht ergründen wollte. Er wandte sich um und winkte uns mit der Hand, während er auf das Lastauto stieg; ich erwiderte den Gruß nicht.«Gehen wir», sagte ich zum Leutnant,«besichtigen wir die Kirche. »
    Wir mussten an den Baracken vorbei, und mein Blick verweilte auf den Elenden, die dort lagen. Eine schauerliche Ergebenheit war auf ihre Gesichter herabgesunken. Junge und Alte, alle durcheinander, unfähig zu klagen (nur die Nacht - ich wusste es wohl - brachte es fertig, ihre Tränen zu lösen), unfähig, Ruhe zu finden. Sie bewegten sich auf diesem engen Raum wie Gespenster, aufgescheucht aus einem alten Lagerschuppen, sie stießen gegeneinander, ließen ihre schmutzigen Essnäpfe auf den Boden fallen und spähten den Vorbeigehenden sehnsüchtig nach. Doch niemand blieb stehen, und auf ihrem Weg zum Brunnen schritten die Frauen ruhig über den Platz. Drüben in der Wirtschaft bediente
die in Rosa gekleidete Frau die schweigenden Kunden.
    Der Leutnant ging ein paar Schritte vor mir her; wir kamen zur Kirchentür, nachdem wir einen mit hohen Eukalyptusbäumen bestandenen Hof überquert hatten. Seltsam, wie plötzlich der Abend gekommen war. Wir traten nicht in die Kirche ein, uns lockte der Friede dieses Hofes, in dem die Frauen umherwandelten, wie versunken in tiefes Sinnen. Vielleicht bedeutet Erfahrung, dass man den Wert gewisser Worte begreift, die uns das Leben langsam und manchmal nicht vergebens offenbart. Angesichts dieses geruhsamen Bildes wusste ich, welche Worte es waren, die jene Schatten rings um die Kirche versammelten, wie in einem schon von der Gnade berührten Limbus. Zwischen den dunklen Schatten der Bäume die hellen Schatten der Gläubigen. Und darüber der Himmel. Ein schwerer und reiner Himmel von einem tiefen Violett, näher, als man ihn sich vorstellt, weil dort der Himmel zu einer Anschauung wurde, und gewiss trugen jene Schatten ihn in ihrem Herzen, wie auch ich ihn schon fühlte. Ich dachte an Mariam und wollte gehen. Ich wollte ins Lager zurück.
    «Was für hübsche Mädchen», sagte der Leutnant und zeigte mir zwei Mädchen, die dort an einen Baum gelehnt standen. Sie sprachen ruhig
miteinander, und wir hielten inne, um sie zu betrachten.«Sieh dir ihre Gewänder an. Sie sind schneeweiß. Welch eine Eleganz.»
    Ich sah sie nicht deutlich, denn es wurde plötzlich dunkel.«Gehen wir hin», sagte ich, von einem sehnlichen Wunsch ergriffen, den ich mir nicht verhehlen konnte. Ich ging quer über den Hof und blieb wenige Schritte von den beiden jungen Mädchen entfernt stehen. Als sie fühlten, dass sie beobachtet wurden, wandten sie sich um. Sie erinnerten mich an Mariam, ich begriff nicht, warum, doch ich dachte, es sei gewiss eine Falle meiner bereits geprüften Vorstellungskraft.«Du wirst Mariam überall sehen, und es wäre Zeit, damit aufzuhören», sagte ich mir. Und doch gemahnten sie mich an

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