Alles ist erleuchtet
dem Krieg starb - zu früh und doch gerade noch rechtzeitig; er machte Löffelchen mit der Kreuzdame Mella S., die einen Riesenbusen und keinen Hintern hatte und die einzige Tochter der reichsten Familie von Kolki war (wo man, wie es hieß, das Silberbesteck immer nur einmal benutzte); er ließ sich unter freiem Himmel vom Pikass Trema O. besteigen, die das mit großem Eifer tat und deren Schreie sie, dessen war er sicher, verraten würden. Sie liebten ihn, und er vögelte sie - Zehn, Bube, Dame, König, Ass, ein glatter Flush, Straight und Royal.
Und so hatte er zwei funktionstüchtige Hände: eine mit fünf Fingern und eine andere mit zweiundundfünfzig jungen Mädchen, die nicht nein sagen konnten und wollten.
Selbstverständlich hatte er auch ein Leben oberhalb der Gürtellinie. Er ging mit gleichaltrigen Jungen zur Schule und lernte. Er war recht gut in Arithmetik, und sein Lehrer, der junge Wankler Jakem E., hatte meinen Urgroßeltern vorgeschlagen, Safran auf eine Schule für begabte Kinder in Lutsk zu schicken. Doch mein Großvater fand das, was er in der Schule lernte, sterbenslangweilig. Bücher sind was für Leute, die kein wirkliches Leben haben, dachte er. Und sie sind kein echter Ersatz. Die Schule, die er besuchte, war klein - vier Lehrer, vierzig Schüler. Jeden Tag gab es Unterricht in religiösen Dingen durch den Guten-Bis-Mittelmäßigen Rabbi und ein Mitglied der Aufrechten Gemeinde sowie Unterricht in weltlichen oder nützlichen Dingen durch drei - manchmal zwei, manchmal vier - Wankler.
Jeder Schüler lernte die Geschichte von Trachimbrod aus einem Buch, das der Ehrwürdige Rabbi geschrieben hatte -UND WENN WIR EINER BESSEREN ZUKUNFT ENTGEGENSTREBEN, MÜSSEN WIR DANN NICHT MIT UNSERER VERGANGENHEIT VERTRAUT UND VERSÖHNT SEIN? - und das regelmäßig von einem Komitee aus Aufrechten und Wanklern überarbeitet wurde. »Das Buch der Begebenheiten« begann als Aufzeichnung bedeutender Ereignisse: Schlachten und Verträge, Hungersnöte, seismische Vorkommnisse, Beginn und Ende politischer Regime. Doch schon bald wurde auch über kleinere Ereignisse sehr ausführlich berichtet - über Feste, wichtige Heiraten und Todesfälle, die Ausführung von Bauvorhaben im Schtetl (damals gab es noch keine Zerstörung) - , und das eher dünne Buch musste durch ein dreibändiges Werk ersetzt werden. Auf Verlangen der Leserschaft - und das waren alle, Aufrechte wie Wankler - umfasste »Das Buch der Begebenheiten« bald auch Aufzeichnungen über die halbjährlich stattfindende Volkszählung, mitsamt den Namen und kurz gefassten Lebensläufen sämtlicher Bewohner (Frauen wurden nach der Spaltung der Gemeinde aufgenommen), sowie Schilderungen weniger bedeutender Ereignisse und Kommentare zu dem, was der Ehrwürdige Rabbi DAS LEBEN UND DAS LEBEN DES LEBENS genannt hatte, und hierzu gehörten Definitionen, Gleichnisse, verschiedene Regeln für ein rechtschaffenes Leben und hübsche, wenn auch sinnlose Sprichwörter. Die späteren Ausgaben, die jetzt ein ganzes Regalbrett beanspruchten, waren noch detaillierter, denn die Bewohner trugen Familienaufzeichnungen, Porträts, wichtige Dokumente und persönliche Tagebücher bei, sodass jeder Schuljunge leicht herausfinden konnte, was sein Großvater an einem bestimmten Donnerstag vor fünfzig Jahren zum Frühstück gegessen oder was seine Großtante nach fünf Monaten unaufhörlichen Regens getan hatte. Ursprünglich war »Das Buch der Begebenheiten« jährlich auf den neuesten Stand gebracht worden, doch nun wurde es ununterbrochen aktualisiert, und wenn es nichts zu berichten gab, berichtete das täglich tagende Komitee, dass es berichtete, damit das Buch in Bewegung blieb, erweitert und dem Leben immer ähnlicher wurde: Wir schreiben... Wir schreiben... Wir schreiben...
Selbst die nachlässigsten Schüler lasen »Das Buch der Begebenheiten« Wort für Wort, denn sie wussten, dass auch sie eines Tages seine Seiten bevölkern würden und dass sie, wenn es ihnen nur gelänge, eine zukünftige Ausgabe in die Hand zu bekommen, von ihren Fehlern lesen (und sie vielleicht vermeiden) könnten, von den Fehlern ihrer Kinder (wodurch sie dafür sorgen könnten, dass sie gar nicht erst geschahen) und vom Ausgang zukünftiger Kriege (wodurch sie imstande wären, sich auf den Tod geliebter Menschen vorzubereiten).
Und ich bin sicher, dass mein Großvater keine Ausnahme war. Auch er muss das Buch Band für Band, Seite für Seite gelesen haben, auf der Suche nach...
JANKEL D.S PERLE
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