Alles ist erleuchtet
einem schmalen Lächeln, das den gebannten Schatten Zufriedenheit offenbarte. Brod ließ die Arme über Brust und Bauch an die Seite herabsinken und drehte sich zu dem Kolker um - es war das zweite Mal in ihrem dreizehnjährigen Leben, dass sie ihren nackten Körper zeigte. Dann musst du etwas für mich tun, sagte sie. Am nächsten Morgen fand man Sofiowka, der von der Holzbrücke baumelte. Seine abgeschnittenen Hände waren mit Schnur an seinen Füßen festgebunden, und quer über seine Brust war mit Brods rotem Lippenstift geschrieben: TIER.
WAS JAKOB R. AM MORGEN DES 21. FEBRUAR 1877 FRÜHSTÜCKTE Bratkartoffeln mit Zwiebeln. Zwei Scheiben Schwarzbrot.
PLAGIAT
Kain tötete seinen Bruder, weil er eines seiner kleinen Lieblingsgedichte plagiiert hatte. Das Gedicht ging so:
Weiden schimmern, Espen beben, Leise Abendlüfte weben Um die Fluten, glatt und eben, Die das Eiland rings umgeben.
Unfähig, die Wut des verkannten Dichters zu bezähmen, unfähig, weiterzuschreiben, da er doch wusste, dass unfähige literarische Piraten die Früchte seiner Arbeit ernten würden, unfähig, die Frage Wenn meins gemeinfrei ist, was ist dann mein? zu unterdrücken, machte er, der unfähige Kain, dem literarischen Diebstahl ein für alle Mal ein Ende. Jedenfalls glaubte er das.
Doch zu seiner großen Überraschung war es Kain, der bestraft wurde, Kain, der verflucht wurde, sich auf dem Acker zu plagen, Kain, der gezwungen war, das schreckliche Zeichen zu tragen, Kain, der - trotz all seiner traurigen und witzigen Phasen und obwohl er jede Nacht eine Bettgenossin fand - niemanden kannte, der auch nur eine Seite seines Opus magnum gelesen hatte. Warum?
Weil Gott den Plagiator liebt. Und daher steht geschrieben: »Und Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.« Gott ist der erste Plagiator. Mangels geeigneter Vorbilder, von denen Er hätte abkupfern können -Er schuf den Menschen zum Bilde wessen? der Tiere? - , war die Erschaffung des Menschen ein Akt reflexiven Plagiats; Gott plünderte den Spiegel. Wenn wir plagiieren, erschaffen wir ebenfalls zum Bilde und leisten einen Beitrag zur Vollendung der Schöpfung. Soll ich meines Bruders Material sein? Natürlich, Kain. Natürlich.
DIE SONNENUHR
(siehe FALSCHE GÖTZEN)
DAS MENSCHLICHE GANZE
Das Pogrom der Aschebestreuten Häupter (1764) war schlimm, doch es war nicht das schlimmste, und noch schlimmere werden zweifellos kommen. Sie ritten durch das Schtetl. Sie vergewaltigten unsere schwangeren Frauen und mähten unsere stärksten Männer mit Sicheln nieder. Sie erschlugen unsere Kinder. Sie zwangen uns, die heiligsten Texte zu verfluchen. (Es war unmöglich, die Schreie der Kleinkinder von denen der Erwachsenen zu unterscheiden.) Unmittelbar nachdem sie verschwunden waren, taten sich Aufrechte und Wankler zusammen und trugen die Synagoge mitten in das Menschliche Dreiviertel, wodurch dieses, wenn auch nur für eine Stunde, zum Menschlichen Ganzen wurde. Ohne zu wissen, warum, schlugen wir uns an die Brust wie an Jom Kippur, wenn wir Abbitte tun. Beteten wir: Vergib unseren Unterdrückern für das, was sie uns angetan haben? Oder: Vergib uns für das, was wir erdulden mussten? Oder: Vergib dir deine Unerforschlichkeit? (siehe ANHANG G: vorzeitige tode) wir, die JUDEN Juden sind das, was Gott liebt. Da Rosen schön sind, müssen wir annehmen, dass Gott sie liebt. Somit sind Rosenjüdisch. Aus demselben Grund sind die Sterne und Planeten jüdisch, ebenso wie alle Kinder, hübsche »Kunst« (Shakespeare war nicht jüdisch, wohl aber Hamlet) sowie Sex, wenn er zwischen verheirateten Partnern in einer guten und angemessenen Haltung vollzogen wird. Ist die Sixtinische Kapelle jüdisch? Worauf du dich verlassen kannst.
DIE TIERE
Die Tiere sind das, was Gott mag, aber nicht liebt.
GEGENSTÄNDE, DIE EXISTIEREN
Gegenstände, die existieren, sind das, was Gott nicht einmal mag.
GEGENSTÄNDE, DIE NICHT EXISTIEREN
Gegenstände, die nicht existieren, existieren nicht. Wenn wir uns etwas vorstellen würden wie einen Gegenstand, der nicht existiert, so wäre das etwas, das Gott hasst. Dies ist das stärkste Argument gegen alle, die nicht an Gott glauben. Wenn es Gott nicht gäbe, müsste er sich hassen, und das wäre natürlich eindeutig Unsinn.
DIE 120 EHEN VON JOSEF UND SARAH L.
Das junge Paar heiratete zum ersten Mal am 5. August 1744, als Josef acht und Sarah sechs war, und beendete diese erste Ehe sechs Tage später, als Josef sich zu Sarahs Ärger
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