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Alles ist erleuchtet

Alles ist erleuchtet

Titel: Alles ist erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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Stolz zusah, wie sie mit der berauschenden Musik ihrer Flöte Schlangen aus Körben hervorlockte. Sie trafen sich im Theater oder vor ihrer schilfgedeckten Hütte in der Zigeunersiedlung auf der anderen Seite des Brod. (Selbstverständlich durfte sie sich nie in der Nähe seines Hauses sehen lassen.) Oder sie trafen sich auf der Holzbrücke oder unter der Holzbrücke oder beim kleinen Wasserfall. Doch meist landeten sie schließlich im versteinerten Teil des Waldes von Radziwill, wo sie unter steinernen Wipfeln miteinander schliefen - vielleicht aus Liebe, vielleicht auch nicht.
    Findest du mich wunderbar?, fragte sie ihn eines Tages. Sie lehnten am Stamm eines versteinerten Ahorns.
    Nein, sagte er.
    Warum?
    Weil so viele Frauen wunderbar sind. Ich kann mir vorstellen, dass Hunderte von Männern heute zu den Frauen, die sie lieben, gesagt haben, dass sie wunderbar sind, und dabei ist es erst Mittag. Du kannst nicht etwas sein, das Hunderte andere ebenfalls sind.
    Willst du damit sagen, dass ich nicht-wundervoll bin?
    Ja.
    Sie strich über seinen leblosen Arm. Findest du mich nicht schön?
    Du bist unglaublich nicht-schön. Du bist von schön so weit entfernt, wie es nur geht.
    Sie knöpfte sein Hemd auf.
    Bin ich klug?
    Nein, natürlich nicht. Ich würde dich niemals klug nennen.
    Sie kniete nieder, um seine Hose aufzuknöpfen.
    Und sexy?
    Nein.
    Witzig?
    Du bist nicht-witzig.
    Fühlt sich das gut an?
    Nein.
    Magst du es?
    Nein.
    Sie öffnete ihre Bluse. Sie schmiegte sich an ihn.
    Soll ich weitermachen?
    Er erfuhr, dass sie in Kiew gewesen war, in Odessa, ja sogar in Warschau. Als ihre Mutter todkrank geworden war, hatte sie ein Jahr lang bei den Schloten von Ardischt gelebt. Sie erzählte ihm von Schiffsreisen zu Orten, von denen er noch nie gehört hatte, und Geschichten, von denen er wusste, dass sie allesamt erfunden waren, dass sie sogar schlimme Nicht-Wahrheiten waren, doch er nickte und versuchte sich zu überzeugen, dass er sich überzeugen lassen solle, versuchte, ihr zu glauben, denn er wusste, dass der Ursprung einer jeden Geschichte eine Abwesenheit ist, und wollte, dass sie in Anwesenheiten lebte.
    In Sibirien, sagte sie, gibt es Paare, die miteinander schlafen, obwohl sie Hunderte von Kilometern voneinander entfernt sind, und in Österreich gibt es eine Prinzessin, die sich das Bild ihres Geliebten auf den Körper hat tätowieren lassen, sodass sie ihn sieht, wenn sie in den Spiegel blickt, und und und auf der anderen Seite des Schwarzen Meers gibt es eine Frau aus Stein - ich habe sie nie gesehen, aber meine Tante - , die zum Leben erwacht ist, weil der Bildhauer sie so geliebt hat!
    Safran schenkte dem Zigeunermädchen Blumen und Schokolade (Dinge, die er von seinen Witwen bekommen hatte) und schrieb Gedichte für sie. Sie lachte nur darüber.
    Wie dumm kann man eigentlich sein?, sagte sie.
    Warum bin ich dumm?
    Weil es dir am schwersten fällt, das zu schenken, was du am leichtesten schenken könntest. Blumen, Schokolade, Gedichte bedeuten mir gar nichts.
    Sie gefallen dir nicht?
    Nicht wenn sie von dir kommen.
    Was möchtest du denn von mir haben?
    Sie zuckte die Schultern, nicht aus Ratlosigkeit, sondern aus Verlegenheit. (Er war der einzige Mensch auf der Welt, der sie verlegen machen konnte.)
    Wo bewahrst du deine Bücher auf?, fragte sie ihn.
    In meinem Zimmer.
    Wo in deinem Zimmer?
    In einem Regal.
    Wie sind sie geordnet?
    Warum fragst du danach?
    Weil ich es wissen will.
    Sie war Zigeunerin. Er war Jude. Wenn sie in der Öffentlichkeit seine Hand hielt - etwas, von dem er wusste, dass sie wusste, wie sehr er es hasste - , erfand er einen Grund, warum er diese Hand jetzt brauchte: Er wollte sich kämmen oder auf die Stelle zeigen, wo sein Ur-ur-ur-Großvater die Goldmünzen wie goldene Kotze aus dem Sack auf das Ufer geschüttet hatte. Dann steckte er die Hand in die Tasche, um der Sache ein Ende zu machen.
    Weißt du, was ich jetzt brauche?, sagte sie, als sie über den sonntäglichen Markt gingen, und griff nach seinem leblosen Arm.
    Sag es mir, und es gehört dir. Was es auch ist.
    Ich will einen Kuss.
    Du kannst so viele bekommen, wie du willst und wo du willst.
    Hier, sagte sie und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Jetzt.
    Er zeigte auf eine nahe Gasse.
    Nein, sagte sie. Ich will hier einen Kuss - sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen - , und zwar jetzt.
    Er lachte. Hier? Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Jetzt?
    Hier, sagte sie und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen.

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