Alles ist erleuchtet
geschnitzt. Wir müssten alles außer uns selbst hinter uns lassen.
Was möglich wäre, setzte er aus den Schnipseln der Nachrichten über den bevorstehenden Krieg zusammen. Es ist jedenfalls ein hübscher Gedanke.
Mein Großvater ging mit ihr zur Sonnenuhr, erzählte ihr die Geschichte des tragischen Lebens seiner Ur-ur-ur-Großmutter und versprach, das Zigeunermädchen um Hilfe zu bitten, sollte er eines Tages versuchen, die Geschichte von Brods Leben zu schreiben. Er erzählte ihr die Geschichte von Trachims Wagen und wie die W.-Zwillinge als Erste das seltsame Treibgut an der Oberfläche hatten auftauchen sehen: sich schlängelnde Schlangen aus weißer Schnur, einen knittrigen Samthandschuh mit ausgestreckten Fingern, leere Garnspulen, leutselige Pincenez, Hirn- und Brombeeren, Fäkalien, Rüschen, die Scherben eines zerschmetterten Zerstäubers, ein Stück Papier, auf das in ausblutender roter Schrift ein Vorsatz geschrieben war: Ich werde... ich werde... Sie schilderte ihm sachlich, wie ihr Vater sie behandelte, und zeigte ihm die Wunden, die man auch an einem nackten Körper nicht wahrnimmt. Er erklärte ihr, warum er beschnitten war, erklärte ihr das Wesen des Bundes mit Gott und seine Vorstellung, zum Auserwählten Volk zu gehören. Sie erzählte ihm, wie ihr Onkel sie vergewaltigt hatte und dass sie seit mehreren Jahren schon Kinder bekommen könne. Er erzählte ihr, er masturbiere mit seiner leblosen Hand, denn so könne er sich vorstellen, mit einem anderen Menschen im Bett zu sein. Sie sagte, sie habe mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt, und sie sagte es so, als hätte sie sich dazu entschieden. Er verriet ihr sein dunkelstes Geheimnis: Im Gegensatz zu anderen Jungen habe die Liebe zu seiner Mutter bei ihm nie nachgelassen, nicht mal ein winziges bisschen seit seiner Kindheit, und bitte lach mich nicht aus und bitte denk nicht schlecht von mir, wenn ich sage, dass mir ein KUSS von ihr lieber ist als alles andere auf der Welt. Das Zigeunermädchen weinte, und als mein Großvater sie fragte, was denn sei, sagte sie nicht: Ich bin eifersüchtig auf deine Mutter. Ich will, dass du mich so liebst wie sie. Nein, sie sagte nichts und lachte: Wie albern! Schließlich sagte sie, sie wünsche sich, dass es noch ein elftes Gebot gebe, geschrieben auf den steinernen Tafeln: Du sollst dich nicht ändern.
Trotz all seiner Affären, trotz all der Frauen, die sich beim Anblick seines leblosen Arms für ihn auszogen, hatte er keine anderen Freunde und konnte sich keine schlimmere Einsamkeit vorstellen als ein Leben ohne das Zigeunermädchen. Sie war die Einzige, die mit Recht behaupten konnte, ihn zu kennen, die Einzige, die ihm fehlte, wenn sie nicht anwesend war, die ihm schon fehlte, wenn sie noch gar nicht abwesend war. Sie war die Einzige, die mehr von ihm wollte als seinen Arm.
Ich liebe dich nicht, sagte er eines Abends, als sie nackt im Gras lagen.
Sie küsste ihn auf die Stirn und sagte: Ich weiß. Und du weißt sicher, dass ich dich auch nicht liebe.
Natürlich, sagte er, obwohl das für ihn eine große Überraschung war - nicht dass sie ihn nicht liebte, sondern dass sie es sagte. In den vergangenen sieben Jahren seines Liebeslebens hatte er diese Worte so oft gehört: aus den Mündern von Witwen und Kindern, von Prostituierten, von Freundinnen der Familie, von Durchreisenden und Ehebrecherinnen. Frauen hatten Ich liebe dich zu ihm gesagt, ohne dass er nur ein Wort gesprochen hätte. Je mehr man jemanden liebt, dachte er, desto schwerer ist es, es ihm zu sagen. Es erstaunte ihn, dass Fremde nicht auf der Straße stehen blieben, um Ich liebe dich zueinander zu sagen.
Meine Eltern haben eine Heirat arrangiert, sagte er.
Für dich?
Sie heißt Zoscha. Sie wohnt in meinem Schtetl. Ich bin siebzehn.
Und liebst du sie?, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
Er zerlegte sein Leben in die kleinsten Teile, untersuchte sie so sorgfältig wie ein Uhrmacher und setzte sie wieder zusammen.
Ich kenne sie ja kaum. Auch er vermied jeden Blickkontakt, denn die Augen hätten seine innersten Gefühle preisgegeben, wie bei Pinchas R, der als Almosensammler auf der Straße lebte und der Mildtätigkeit seiner Mitmenschen preisgegeben war.
Und wirst du tun, was sie sagen?, fragte sie und malte mit ihrem karamellfarbenen Finger Kreise in den Sand.
Mir bleibt doch gar nichts anderes übrig, sagte er.
Natürlich.
Sie sah ihn nicht an.
Du wirst ein glückliches Leben haben, sagte sie. Du wirst immer glücklich
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