Alles ist erleuchtet
Jetzt.
Sie lachten beide. Ein nervöses Lachen. Es begann als leises Kichern. Addiert. Lauteres Lachen. Multipliziert. Noch lauter. Potenziert. Lachen, unterbrochen von Keuchen. Haltloses Lachen. Lachkrampf. Unendlich.
Ich kann nicht.
Ich weiß.
Sieben Jahre lang schliefen mein Großvater und das Zigeunermädchen zweimal pro Woche miteinander. Sie hatten einander jedes Geheimnis gestanden; sie hatten einander, so gut sie konnten, die Eigenheiten ihres Körpers erklärt; sie waren forsch und passiv, gierig und freigebig, wortreich und stumm gewesen.
Wie hast du deine Bücher geordnet?, fragte sie ihn, als sie nackt auf einem Bett aus Kieseln und harter Erde lagen.
Ich habe dir doch gesagt, dass sie in meinem Zimmer in einem Regal stehen.
Ob du dir wohl ein Leben ohne mich vorstellen kannst?
Natürlich kann ich das, aber ich will es nicht.
Das wäre nicht angenehm, oder?
Warum sagst du das?
Es war nur so ein Gedanke, der mir durch den Kopf ging.
Keiner seiner Freunde - wenn man überhaupt sagen kann, dass er Freunde hatte - wusste von dem Zigeunermädchen, wie auch keine der anderen Frauen von dem Zigeunermädchen wusste, und seine Eltern wussten natürlich ebenfalls nichts von dem Zigeunermädchen. Sie war ein so streng gewahrtes Geheimnis, dass er manchmal das Gefühl hatte, als wisse nicht einmal er selbst von seiner Beziehung zu ihr. Sie wusste von seinem Bestreben, sie vor dem Rest der Welt zu verstecken, sie in einer nur auf geheimen Wegen zugänglichen Kammer einzusperren, sie hinter einer Mauer zu verbergen. Sie wusste, dass er sie nicht liebte, auch wenn er glaubte, sie zu lieben.
Was meinst du, wo du in zehn Jahren bist?, fragte sie ihn und hob den Kopf von seiner Brust.
Ich weiß es nicht.
Was meinst du, wo ich sein werde? Ihrer beider Schweiß hatte sich vermischt und war getrocknet, sodass sie mit einer schmierigen Schicht bedeckt waren.
In zehn Jahren?
Ja.
Ich weiß es nicht, sagte er und spielte mit ihrem Haar. Was meinst du denn, wo du sein wirst?
Ich weiß es nicht.
Und was meinst du, wo ich sein werde?
Ich weiß es nicht, sagte sie.
Sie lagen schweigend da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, jeder bestrebt, die Gedanken des anderen zu ergründen. Sie lagen aufeinander und wurden einander fremd.
Warum hast du gefragt?
Ich weiß es nicht, sagte sie.
Tja, was wissen wir schon?
Nicht viel, sagte sie und legte den Kopf wieder auf seine Brust.
Wie Kinder wechselten sie Briefchen. Mein Großvater machte seine aus Zeitungsausschnitten und ließ sie in ihre Körbe fallen, in die, wie er wusste, nur sie selbst die Hand stecken würde. Triff dich mit mir unter der Holzbrücke, und ich zeige dir etwas, das du noch nie, noch niemals gesehen hast. Das »Triff« stammte von der Armee, die seine Mutter umbringen würde:
DEUTSCHE ARMEE TRIFFT AUF RUSSISCHE GRENZE; das »Di« von ihrer sich nähernden Flotte: deutsche marine vernichtet DIE FRANZÖSISCHE FLOTTE BEI LESACS; das »ch« von der Halbinsel, die sie so blauäugig betrachteten: deutsche kesseln KRIM EIN; das »mit« von zu wenig, zu spät: AMERIKA STELLT ENGLAND FINANZIELLE MITTEL ZUR VERFÜGUNG; das »m« vom Abschaum der Menschheit: Hitler missachtet Nichtangriffspakt ... und so weiter und so weiter, jedes Briefchen eine Collage einer Liebe, die es nicht geben konnte, und eines Krieges, den es sehr wohl gab.
Das Zigeunermädchen schnitzte Liebesbriefe in Bäume und füllte den Wald mit Nachrichten an ihn. Du sollst mich nicht verlassen, schrieb sie in die Rinde eines Baumes, in dessen Schatten sie einmal eingeschlafen waren. Du sollst mich in Ehren halten, ritzte sie in den Stamm einer versteinerten Eiche. Sie stellte eine neue Liste von Geboten auf, von Geboten, die sie gemeinsam befolgen konnten und die ein gemeinsames, nicht ein getrenntes Leben regeln sollten. Du sollst in deinem Herzen keine anderen Geliebten über mich stellen. Du sollst meinen Namen nicht missbrauchen. Du sollst mich nicht töten. Du sollst mich achten und heilig halten.
Wo immer du in zehn Jahren bist, möchte auch ich sein, schrieb er, indem er Stücke von Zeitungsschlagzeilen auf gelbes Papier klebte. Ist das nicht ein schöner Gedanke?
Ein sehr schöner Gedanke, fand er an einem Baum am Waldrand. Und warum ist es nur ein Gedanke?
Weil - die Druckerschwärze färbte seine Finger dunkel; er las, was er über sich geschrieben hatte - , weil zehn Jahre eine lange Zeit sind.
Wir müssten durchbrennen, war im Kreis um den Stamm eines Ahorns
Weitere Kostenlose Bücher